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Piraten machen, was Firmen machen – nur besser. Gespräch mit Matt Mason

Von Simone Achermann

Matt Mason, der Autor des Bestsellers «The Pirate’s Dilemma», über die Piraterie als Geschäftsmodell, Yankees und die menschliche Urangst vor Veränderung 

 

Herr Mason, Sie waren früher DJ für einen Piratensender in London und wurden kürzlich von «Business Week» zum «Piraten des Jahres» gekürt. Halten Sie sich für einen Piraten?

Wir leben in einer Zeit, in der jeder ein potenzieller Pirat ist. Als ich DJ bei einem Piratensender war, brauchte man noch eine Antenne und ein Studio, um illegal zu senden. Jetzt reicht dafür eine iPhone-Applikation. Ob ich heute noch ein Pirat bin? Manchmal. Wenn ich zum Beispiel einen Film legal herunterladen kann, dann mache ich das und bezahle dafür. Wenn mich aber eine Firma daran hindert, etwas zu bekommen, das ich dringend brauche, dann nehme ich mir die Freiheit, es mir trotzdem zu beschaffen.


Trotzdem haben Sie ein Buch geschrieben in der Hoffnung, dass es sich verkauft – was es auch tat: «The Pirate’s Dilemma» war die Nummer 1 auf der Amazon-Bestseller-Liste in der Sparte Wirtschaft und Unternehmen. Ist das kein Widerspruch?

Nein. Denn man kann mein Buch illegal oder legal und gratis von meiner Website herunterladen. Ich sehe die Piraterie als ein Faktum unseres modernen Lebens. Wenn man etwas produziert, das die Leute haben wollen, dann werden sie es sich mit Hilfe der neuen Technologie so oder so beschaffen. Also haben wir den Leuten angeboten, das Buch gratis herunterzuladen, gaben ihnen aber gleichzeitig die Gelegenheit, einen beliebigen Betrag zu bezahlen. Mehr als zehn Prozent derer, die das Buch heruntergeladen haben, haben fünf Dollar oder mehr dafür ausgegeben. Der Grund, warum das Buch so schnell populär wurde, und infolge auch so viele Leser bereit waren, dafür zu bezahlen, war eben genau die Möglichkeit des einfachen Gratis-Downloads im Internet. Und das ist auch die Hauptaussage meines Buchs: die Piraterie eröffnet neue Ansätze für das Marketing.

 

Pharma-, Musik- und Filmindustrie sehen in der Piraterie aber kein neues Geschäftsmodell, sondern massive Umsatzeinbussen. 

Wenn die Leute ein Produkt so sehr wollen, dass sie es «stehlen», dann ist das eine gute Sache. Unternehmen sollten anfangen, Kapital daraus zu schlagen. Es gibt drei Möglichkeiten, das zu tun. Erstens kann eine Firma die Piraten kopieren und ihre Produkte gratis abgeben. Ein gutes Beispiel dafür ist das Unternehmen Novartis, das kürzlich in Entwicklungsländern Arzneimittel gegen Leukämie verschenkte. Indem die Firma die Piraten «kopierte», entzog sie ihnen nicht nur den Markt, sondern machte auch die beste Eigenwerbung. Pharmakonzerne geben jährlich Milliarden für das Marketing aus und sind dennoch unbeliebt. Mit solchen Aktionen der Großzügigkeit könnte sich das ändern. Zweitens kann ein Unternehmen absichtlich die Piraten ihr Produkt kopieren und weiterverwenden lassen. So zum Beispiel die Videospiel-Industrie, die immer öfter die Spiel-Codes offen lässt, so dass die Benutzer die Figuren neu zusammenstellen können – eine der wichtigsten Quellen der Innovation in der Branche. Wenn sich beide Varianten nicht für ein Unternehmen eignen, gibt es noch die dritte Möglichkeit: Man verkauft etwas, das sich nicht kopieren lässt: Vertrauen, Komfort oder Erfahrung. Schon bald werden Teenager ihre Nike-Schuhe mit 3D-Druckern herunterladen. Es ist also besser, eine gute Story zu verkaufen, als auf dem Copyright eines Produkts zu beharren.

 

Wird das geistige Eigentum angesichts dieses enormen technologischen Fortschritts das neue Jahrzehnt überdauern?

Im Lauf der Geschichte hat die Menschheit Kreativität immer belohnt, auch als es noch kein Geld gab. Durch das Internet und andere moderne Technologien haben immer mehr Menschen Zugang zu Dienstleistungen, Daten und Musik. Ob das geistige Eigentum abgeschafft werden wird oder nicht: Die Gesetze werden sich an die neuen Umstände anpassen müssen, und es braucht neue Wege, Hersteller und Vertreiber zu entlohnen. Immer wenn in der Geschichte der Medien etwas Neues kam, herrschte zunächst Chaos. Aber schließlich gewöhnt sich die Gesellschaft an die neue Situation, und entsprechende Gesetze folgen. Im Augenblick sind wir in einem solchen Zustand des Chaos. Aber ich sehe das als positive Entwicklung mit einem hohen Potenzial für eine offenere und kreativere Gesellschaft.

 

Sie sagen, die gegenwärtige Debatte über den Datenschutz komme Jahrzehnte zu spät. Warum?

Weil die Piraterie ein altes Phänomen ist. Als Thomas Edison den Phonographen erfand, nannten ihn die Musiker einen Piraten. Die Leute glaubten, er kopiere etwas, mit dem andere ihren Lebensunterhalt verdienten und gefährde dadurch ihre Existenz. Damals ahnte niemand, dass dies die Geburtsstunde der Schallplattenindustrie war. Ähnlich verhielt es sich in der Industriellen Revolution: Als die Amerikaner anfingen, mit Hilfe geistigen Eigentums und Designs aus Europa die neue Welt zu bauen, ohne dafür Lizenzen zu bezahlen, nannten die Europäer sie Yankees – damals ein Slang-Wort für Pirat. Wir haben «Kopieren» also schon immer Piraterie genannt, aber wir haben das Problem jedes Mal gelöst, indem wir es in eine neue Chance verwandelt haben. Immer wenn eine alte Ordnung bedroht ist, regt sich Widerstand. Der Copyright-Krieg ist nichts anderes als die menschliche Urangst vor Veränderung.

 

Gibt es denn Ihrer Meinung nach auch schlechte Piraten?

Der Grund, warum mein Buch das Dilemma des Piraten heisst, ist der, dass Piraterie nie nur gut oder nur schlecht ist. Vor einigen Jahren wurde eine Zahnpasta von Colgate in China kopiert. Die illegale Version enthielt jedoch Blei und einige Menschen vergifteten sich damit. Es schien zunächst, als habe Colgate keinen Vorteil davon. Aber wenn man den Fall neu durchdenkt, eröffnen sich unsichtbare Märkte: Die Menschen, welche die falsche Colgate gekauft hatten, wollten eigentlich die echte, hatten aber keinen Zugang zum Produkt. Deshalb sage ich: Halte immer Ausschau nach Möglichkeiten, von der Piraterie zu profitieren. Die Piraten machen immer das, was du auch machst, nur ein bisschen anders. Und es lohnt sich, darüber nachzudenken.

 

Wie steht es mit Hochseepiraten, die mit Maschinengewehren Tanker kapern?

Auch dieser Fall ist nicht eindeutig. Die Piraten von Somalia beispielsweise waren zu ihren Handlungen gezwungen, weil europäische Tanker Giftmüll in ihre Gewässer abließen und dadurch alle Fische töteten. Also war die Piraterie am Anfang eine Art Küstenwache, die von den Bürgern von Somalia aufgestellt wurde, weil die Regierung nichts unternahm. Daraus entstand die Idee, sich durch Angriffe auf Schiffe und Geiselnahmen Geld zu beschaffen. Es entwickelte sich eine neue Industrie, die nicht gut im moralischen Sinne ist, aber dafür sorgte, dass sich die Fischbestände erholten. Heute können die Fischer wieder ihrer Beschäftigung nachgehen, da die Tanker aus Angst ihre Gewässer meiden. Man muss die Piraterie immer in einem größeren Rahmen sehen, und das Bild ist nie ganz schwarz oder weiß.

 

Was wünschen Sie sich für das eben begonnene Jahrzehnt?

Ich hoffe, dass sich die Dezentralisierung von Besitz in all ihren Formen weiterentwickelt. Das bedeutet nicht, dass ich das geistige Eigentum abschaffen will. Weder Piraten, die fordern, dass alles gratis wird, noch Firmen, die das geistige Eigentum um jeden Preis verschärfen wollen, haben Recht. Wir müssen einen Mittelweg finden. Und ich bin sehr optimistisch, dass uns das gelingen wird.

 

 

Matt Mason ist der Autor des Bestsellers «The Pirate’s Dilemma», des weltweit ersten Buchs, das es gleichzeitig auf Platz Nummer 1 der Amazon-Bestsellerliste (Sparte Wirtschaft / Unternehmen) und der Rap-Bestsellerliste geschafft hat. Es wurde seither in zehn Ländern veröffentlicht. Kürzlich wurde Mason von der Zeitschrift «BusinessWeek» zum Piraten des Jahres gewählt. Zur Zeit ist er Strategy Director der Agentur Syrup. Mason begann seine Karriere als Piratensender- und Club-DJ in London. Danach wurde er Gründungsherausgeber der einflussreichen Zeitschrift RWD. Er schrieb und produzierte TV-Serien, Comic Strips, Videos und CDs. Seine journalistischen Beiträge erschienen in «The Guardian», «The Independent», «The Observer», «Music Monthly» und «Adweek» sowie in weiteren Publikationen in über 20 Ländern. www.thepiratesdilemma.com

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