W.I.R.E.
close

Stadt und Land müssen Gegensätze bleiben. Gespräch mit Mike Guyer; Architektu

Von Simone Achermann

 

Das Land wird als Siedlungsraum wieder attraktiv, glaubt der Zürcher Architekt Mike Guyer. Dazu müssen aber die komplementären Qualitäten von Stadt und Land gewahrt werden. Denn es sind vor allem die traditionellen Werte des Lands, die im globalisierten Zeitalter ein nationales Zugehörigkeitsgefühl und ein Gespür für sich selbst vermitteln.

 

Mit der fortschreitenden Urbanisierung häufen sich die Visionen von der Metropole der Zukunft. Über die Entwicklung des Lands als Gegenpol zur Stadt macht sich aber kaum einer Gedanken. Warum?

Bei diesen Visionen ist man auf das Thema, die Stadt der Zukunft, fokussiert. Um möglichst prägnant und überzeugend zu wirken, wird dabei alles andere ausgeblendet – wie auch das Land. Es liegt in der Natur dieser Konzepte, dass sie sich durch eine selektive Wahrnehmung auf das vermeintlich Wesentliche konzentrieren. Doch es gibt auch  differenzierte, «leisere» Betrachtungen, wie zum Beispiel die Studie «Die Schweiz, ein städtebauliches Portrait» (2005) des ETH-Studios Basel, in der die Wechselwirkungen und gegenseitigen Abhängigkeiten von Stadt und Land umfassend untersucht und beschrieben wurden.

 

Aus Gründen der Nachhaltigkeit ist die Verdichtung der Bevölkerung im urbanen Raum sinnvoll. Gehört das Land als Siedlungsraum der Vergangenheit an?

Das Land soll entsprechend seinen Möglichkeiten vor allem landwirtschaftlich genutzt werden und der Freizeit, der Erholung und dem Tourismus dienen. Doch wenn man auf dem Land Natur unverfälscht erleben kann, wird das für viele Menschen als Alternative zum Leben in der Stadt immer attraktiver werden. Allerdings verliert zersiedeltes Land oder die sogenannte Zwischenstadt, wie wir sie in der Schweiz immer häufiger antreffen, mit ihrer Gleichförmigkeit und Unentschiedenheit die Anziehungskraft und ist als Lebensraum auf längere Sicht nur schwer zu ertragen.

 

Was kann denn in einem so dicht bewohnten Raum wie der Schweiz gegen die Zersiedelung unternommen werden?

Die Zersiedelung des schweizerischen Mittellands in den letzten Jahrzehnten ist darum so verheerend, weil sich die Gegensätze der bebauten und nicht bebauten Gebiete zunehmend angleichen und die konträren Qualitäten von Stadt und Land unterzugehen drohen. Es ist darum wichtig, dass das Wachstum der Städte wie der Dörfer auf die jetzt beanspruchten Flächen begrenzt wird und die scheinbar unendliche horizontale Ausdehnung zugunsten einer Verdichtung gestoppt wird. Die landschaftlichen Leerräume sollten geschützt, die städtischen Siedlungsgebiete verdichtet und die Gegensätzlichkeit dieser beiden Teile geschärft werden – auch wenn dies einen beachtlichen Eingriff in die Autonomie der Gemeinden darstellt und private Besitzverhältnisse tangieren kann.

 

Eine aktuelle Diskussion in der Schweiz dreht sich um die unterschiedlichen Abstimmungsresultate in ländlichen und städtischen Gebieten. Wie stark prägt das räumliche Umfeld die Werthaltung?

Natürlich sind Menschen durch ihr städtisches oder ländliches Umfeld stark geprägt, vor allem wenn sie am gleichen Ort arbeiten und leben. Die Mentalitäten sind wegen der unterschiedlichen Lebensbedingungen anders: Die Stadt ist dynamischer, gegenüber Neuem aufgeschlossener, abgehobener, anonymer; das Land ist träger, gegenüber Fremdem misstrauischer, geerdeter, intimer. Die zunehmende Mobilität zeigt aber, dass viele Menschen täglich als Pendler oder in ihrer Biografie mehrmals ihr Umfeld wechseln und damit die Qualitäten beider Bereiche schätzen und zu verbinden wissen.

 

Und global gesehen: Fühlt sich ein Londoner nicht verbundener mit einem Berliner als mit einem englischen Bauern?

Nein. Ich glaube, das Bewusstsein nationaler Identität hat durch die zunehmende Globalisierung eher an Bedeutung gewonnen. Ein Londoner Banker mag sich mit seinem Berliner Kollegen geschäftlich sehr gut verstehen, er wird sich aber dank gleicher Herkunft, Sprache und Bräuche dem englischen Bauern trotz des Stadt-Land-Gegensatzes verbundener fühlen.

 

Führt die kulturelle Nivellierung internationaler Grossstädte also dazu, dass nationale Identität zusehends über die traditionellen ländlichen Werte einer Nation entsteht?

Ja, Städter besinnen sich in der globalisierten Welt wieder vermehrt auf die eigenen Werte und finden diese auf dem Land. Sie entdecken von Neuem die Qualitäten von herkömmlichen Speisen, Stoffen, traditionellen Architekturen, naturverbundener Lebensweise und versuchen, diese in ihr städtisches Leben zu übertragen. Je ausgeprägter die Gegensätze zwischen Stadt und Land sind, desto besser funktionieren Transfers von ursprünglichen Werten. Durch die radikale Urbanisierung wird die Lebensweise der Bevölkerung städtischer, künstlicher, der Natur entfernter – und umso mehr werden die Städter das Land und die Verbundenheit mit der Natur wertschätzen. Das Land hinkt der Stadt, was Wirtschaft, Wissenschaft, Innovation, Kultur, Dynamik betrifft, hinterher. Aber die Städter können auf dem Land mit der Verlangsamung des Lebens wieder zu sich selbst und zu gemeinschaftlichen Werten finden.

 

Was ist Ihre persönliche Vision vom Land?

In der menschlichen Phantasie wird das Land immer der Ort des paradiesischen Seins und Wohnens bleiben. In der Realität einer kontinuierlich wachsenden Bevölkerung muss dem Land der Zukunft und seiner Vegetation aber nachhaltig Sorge getragen werden. Es soll in wichtigen Teilen allen gehören und dadurch der Spekulation entzogen werden. Und es soll als Gegensatz zu den stark verdichteten Lebensbedingungen in den Städten hoch geschätzt und deshalb ein wichtiger Teil der nationalen Identität sein.

 

Mike Guyer ist ein Zürcher Architekt. Nach dem Erwerb seines ETH-Diploms und mehreren Lehrjahren bei Herzog & de Meuron sowie beim Office for Metropolitan Architecture gründete Guyer zusammen mit Annette Gigon das Architekturbüro Gigon/Guyer. Insbesondere im Museumsbereich haben sich Gigon/Guyer mit Bauten wie dem Museum Liner, dem Archäologischen Park Kalkriese oder dem Kirchner-Museum in Davos internationale Reputation verschafft. Ihr jüngstes Werk ist der Prime Tower in Zürich.

 

© 2024 W.I.R.E. - Web for Interdisciplinary Research and Expertise
mrks.ch - professional web work zurich