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Den Berg zum Propheten bringen. Von Stephan Sigrist

Wer bei Innovation allein an Technologie denkt, hat das Wichtigste vergessen: den Menschen. Dabei muss seit jeher die Technologie nicht nur der Gesellschaft angepasst, sondern die Gesellschaft auch für neue Technologien sensibilisiert werden. Echter Fortschritt erfordert Geisteswissenschaftler, die über den sozialen Boden für technische Innovationen nachdenken. Es braucht Maschinen, die freundlich zu uns sind. Und Unternehmen, die sich frühzeitig um die Bedürfnisse der Gesellschaft kümmern. Das ist gut für das Marketing, vor allem aber die Grundlage für nachhaltige Erneuerung.

 

Beginnen wir doch mit einem kurzen Experiment. Konzentrieren Sie sich, schliessen Sie für einen Moment Ihre Augen, atmen Sie ruhig durch. Denken Sie nun an eine bedeutende Innovation der letzten zwanzig Jahre.
Was ist vor Ihrem geistigen Auge erschienen?
Ein Smartphone? Ein Tablet-Computer oder vielleicht ein Elektromobil? Falls ja, geht es Ihnen wie der Mehrheit der Menschen. Sie assoziieren Innovation mit einer Technologie, einem Gerät oder einem Produkt. Und Sie haben recht damit: Produkte wie diese sind echte Innovationen; Neuerungen, die sich im Markt eine breite Akzeptanz geschaffen haben und die Art und Weise, wie wir leben, neu definieren. Sie erleichtern unser Leben oder schonen natürliche Ressourcen, sind also Innovationen, die sinnbildlich für Fortschritt und damit für steigenden Wohlstand und höhere Lebensqualität stehen.

 

Die langen Wellen des Fortschritts

Technologie stellt auch aus Sicht der Wissenschaft den Ausgangspunkt für Innovation dar. Das Modell der so genannten Kondratjew-Zyklen gilt bis heute als eine wichtige Grundlage für die Analyse des Zusammenspiels von Innovation, technologischem Fortschritt und wirtschaftlichem Wachstum. Es geht auf den russischen Wirtschaftswissenschaftler Nikolai Kondratjew zurück, der 1926 seine Theorie der langen Wellen veröffentlichte, mit der er die ökonomische Entwicklung anhand von zyklischen Phasen beschrieb. Ausgangspunkt für die langen Wellen der positiven Konjunktur sind Innovationsimpulse durch neue Basistechnologien, die einen von massiven Investitionen getragenen wirtschaftlichen Aufschwung hervorbringen – so zum Beispiel die Dampfmaschine, welche die Industrialisierung der Produktion oder die Mobilität durch Eisenbahnen mit sich brachte; die Petrochemie und damit verbunden der Individualverkehr mit seinen ganzen Infrastrukturmassnahmen oder aktuell die Informationstechnologie. Nachdem sich eine Innovation durchgesetzt hat, verringern sich gemäss der Theorie die damit verbundenen Investitionen, was zu einem «Abschwung» führt. In dieser kritischen Phase entstehen durch Mangel und Knappheit neue Basisinnovationen, die dann wiederum den nächsten Aufschwung einleiten. Die Errichtung der europäischen Eisenbahnen wurde demnach entscheidend vorangebracht, weil die bislang vorhandenen Transporttechnologien wie Pferdegespanne nicht mehr ausreichten, um die rapide wachsenden Mengen industriell hergestellter Güter genügend schnell auszuliefern. Was essenziell ist an Kondratjews Modell: Es geht davon aus, dass als Folge eines technischen Innovationsimpulses eine weitreichende wirtschaftliche und soziale Transformation stattfindet. Die Verbindung zwischen Technologie und Gesellschaft ist gemacht.

Die Formel «Innovation gleich Technologie» greift also zu kurz. Neben Technologien, die sich primär in Produkten manifestieren, spielen bei Innovationsvorgängen auch soziale Innovationen, also Anpassungen der sozialen oder ökonomischen Strukturen an die neuen Technologien, eine enorme Rolle. Die österreichische Soziologin und Wissenschaftsforscherin Helga Nowotny geht sogar davon aus, dass die Verbreitung einer Technologie neue soziale Organisationsformen bedingt, um technische Neuerungen in einer für die Gesellschaft akzeptablen Form auffangen zu können. Als Beispiel nennt sie etwa die Einführung des Versicherungswesens als Reaktion auf die industrielle Revolution des 19. Jahrhunderts. Um die neuen Risiken des infolge der Dampfmaschine völlig veränderten Alltagslebens – Arbeitsunfälle, Arbeitslosigkeit oder Rentenalter – zu bewältigen, wurde es laut Nowotny notwendig, den Sozialstaat oder private Risikominderungslösungen aufzubauen.

Trotz dieser Erkenntnis beschränkt sich der Fokus von Öffentlichkeit, Politik und vielen Unternehmen bei der Auseinandersetzung mit Innovationen unserer nahen und fernen Zukunft aber nach wie vor primär auf Technologien: Die Vision der Medizin des 21. Jahrhunderts ist geprägt von personalisierten Arzneimitteln, die Patienten nur dann verschrieben werden, wenn das Medikament – basierend auf dem Resultat eines genetischen Tests – auch tatsächlich wirkt. Und als wichtigste Treiber der Energiewende gelten neue Formen einer nachhaltigen Stromerzeugung, Elektromobile sowie intelligente Algorithmen, welche aus den rasant wachsenden Datenbergen die wirklich relevanten Informationen herausfiltern und uns so bessere Entscheidungsgrundlagen liefern. Ist die Technologie erstmals etabliert, so die generelle Erwartung, werden Wirtschaft, Politik und Gesellschaft – sprich der Mensch mit seinen Gewohnheiten – sich ihr automatisch anpassen.

 

Ko-Evolution von Technologie und Gesellschaft

Dementsprechend erscheint auch Kondratjews lineare Konzeption, dass Technologie als primärer Impulsgeber für Innovation dient, welche ökonomische konsequenzen hat und daher im Nachhinein sozial eingebettet werden muss, als zu limitiert. Nowotny geht vielmehr von einem ko-evolutionären Prozess aus, bei dem technologische und soziale Innovation sich gegenseitig bedingen. Die Forderung einer gleichzeitigen Entwicklung von technischer und sozialer Evolution würde dabei einen parallelen Prozess voraussetzen, in dem mit dem Aufkommen neuer technologischer Ansätze gleichzeitig über soziale Strukturen und Geschäftsmodelle nachgedacht wird, die es überhaupt erst ermöglichen, dass eine Technologie breitenwirksam zur Anwendung kommt.

So gilt es konsequent, über die technischen Parameter der Innovationen hinauszudenken. Im Zusammenhang mit den demografischen Verschiebungen der Alterspyramide zeigte sich etwa, dass der in vielen Ländern und insbesondere Städten akute Mangel an Pflegepersonal nicht einfach durch Roboter zu beseitigen ist, die Senioren dabei helfen, ihren Alltag leichter zu bewältigen. Die mit Plastikhaut überzogene Kombination aus Greifarmen, elektrischen Fingern, Kopf mit Sensoraugen und Monitoren-Rumpf musste – in Form eines Bärengesichts – freundlicher gestaltet werden, damit sie bei den pflegebedürftigen Menschen auf Akzeptanz stiessen: Je emotionaler Erscheinungsbild, Stimme und Bewegungsablauf, desto eher erklärten sich die Senioren bereit, mit einem elektronischen statt einem menschlichen Gefährten vorlieb zu nehmen.

Soziale Innovation geht aber noch weiter. So erfordern beispielsweise die neuen Möglichkeiten der Selbstdiagnose von Patienten, denen immer neue Messgeräte – zum Beispiel für Diabetes, Schwangerschaft oder vielleicht bald gar auch Krebs – den Gang zum Arzt sparen, auch eine entsprechend bessere Informiertheit derselben, damit sie ihre Messdaten auch richtig interpretieren und adäquat darauf reagieren können. Die personalisierte Medizin benötigt Finanzierungsmodelle, die sicherstellen, dass Pharmaunternehmen beim Fokussieren auf immer kleiner werdende Märkte ihre Investitionen in die Forschung wieder einspielen. Ebenso ist die Energiewende keineswegs nur von der Verfügbarkeit ressourcenneutraler Kraftstoffe abhängig, sondern in hohem Masse auch von der Bereitschaft der Bevölkerung, diese zu finanzieren und gleichzeitig ihre Verhaltensweise beim Energiekonsum anzupassen.

Und in bestimmten Problembereichen kann sich Innovation sogar gänzlich von Technologien und Produkten emanzipieren. Die Herausforderungen rund um die dramatische Zunahme von Diabetes Typ II und den damit verbundenen Kosten legen nahe, dass diese sich nur dann wirksam bekämpfen und langfristig finanzieren lässt, wenn sich der Lebensstil der Menschen ändert. Produkte können dazu beitragen. Die eigentliche Grundlage ist aber ein Wertewandel in Richtung Prävention und damit verbunden die Entwicklung von Anreizsystemen, Bildungsprogrammen oder Präventionsangeboten, die auch eine Grundlage für neue Geschäftsmodelle liefern.

 

Gezielte Anpassung sozialer Strukturen

Es gilt also, Innovation ganzheitlich zu definieren. Was auf den ersten Blick trivial klingt, ist in der Umsetzung aber möglicherweise weitreichender, als es zunächst scheint. So wird es immer wichtiger, dass Unternehmen oder Staaten bei der Planung langfristiger Innovationsprojekte über die gezielte Anpassung gesellschaftlicher Strukturen nachzudenken beginnen und eine solche gar initiieren, um die Akzeptanz technologischer Innovationen zu ermöglichen. Dies scheint umso dringlicher, da eine neue Technologie unter Umständen innerhalb weniger Monate verfügbar sein kann, der gesellschaftliche Wertewandel in der Regel aber wesentlich länger dauert. Darüber hinaus gilt es, soziale Innovation als solche zu fördern, schlicht weil viele Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft mit Technologie allein nicht lösbar sind.

Als Konsequenz einer solch erweiterten Definition von Innovation und deren Umsetzung ergibt sich einerseits die Notwendigkeit für langfristige Planungshorizonte und andererseits jene für eine konsequente Auseinandersetzung mit dem Wechselspiel von Technologie, Wirtschaft und Gesellschaft. Dies impliziert auch vermehrt interdisziplinäre Forschungs- und Entwicklungsprojekte, in denen Geisteswissenschaftler Hand in Hand mit Naturwissenschaftlern arbeiten. Sowohl für Hochschulen als auch Unternehmen wäre es vermutlich gewinnbringend, bereits in einer Frühphase technologischer Entwicklungen führende köpfe aus der Psychologie, Soziologie oder Politikwissenschaft mit einzubeziehen, die die Innovationen auf ihre soziale Akzeptanzfähigkeit hin überprüfen. Im Falle einer Negativbilanz könnten sie gar neue soziale Organisationsformen entwickeln, diese in kleinem Rahmen bereits erproben und schliesslich an den entsprechenden politischen und wirtschaftlichen Schlüsselstellen propagieren, um sicherzustellen, dass die Neuerungen auch tatsächlich zur Anwendung kommen. Das Ziel dabei sollte mehr denn je sein, nicht allein das technische Potenzial einer Erfindung und deren Umsetzung in ein Produkt zu beurteilen, sondern von Be- ginn weg die Menschen nicht aus den Augen zu verlieren.

 

Stephan Sigrist ist Gründer und Leiter von W.I.R.E. und beschäftigt sich seit vielen Jahren mit Entwicklungen der Life Sciences sowie mit langfristigen Trends in Wirtschaft und Gesellschaft. Zudem ist er Autor zahlreicher Bücher, berät Unternehmen und politische Institutionen in strategischen Belangen und ist regelmässiger Referent auf internationalen Tagungen. 

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