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Mythische Datenwelt. Essay von Philipp Theisohn

Von Philipp Theisohn


Die globalen Datenberge werden immer grösser und unüber sichtlicher. Wir müssen ihnen einen Mythos geben, um die Angst vor ihnen zu verlieren. Und den liefert der Cyberpunk.

 

Kein Zweifel: Big Data fehlt es an begabten Phantasten. Eigentlich bringt die Idee alles mit, um eine grosse, ja eine faszinierende Erzählung werden zu können: die Suche nach dem Schlüssel zum tiefsten Verständnis der Welt, den Moment, in dem die Dinge mit uns neu zu sprechen beginnen, die Utopie einer globalen, ökonomischen wie ökologischen Selbststeuerung des Menschen. Von dieser Utopie geblieben ist jedoch nur noch ein Raunen, ein Gerücht: Während wir noch von der besseren Welt träumen, hat jemand – Firmen, Finanzämter, Geheimdienste – schon «unsere Daten da» (Kraftwerk). Dieses uns bestens vertraute Szenario hat einen Fehler: Die Daten sind nicht mehr «da», sondern überall, sie fliessen durch unsere Hände und werden von uns genutzt, aber kaum mehr verstanden. Big Data braucht vorerst also nicht höhere Rechenkapazitäten, sondern einen passablen Plot. Eine Geschichte der Daten, sie könnte die Furcht vor ihnen nehmen.

Bedienen könnte man sich dabei aus dem Fundus eines literarischen Genres, dessen Wurzeln in den 80er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts liegen und das die Welten, die Big Data möglich machen könnte, vor unseren Augen ausbreitet: dem Cyberpunk, jener Spielart der Science Fiction, in der sich die raue Lebenswirklichkeit einer nahen, volltechnisierten Zukunft mit Wucht vor deren logische Erklärung schiebt. Das präzise Seziermesser der Verfremdung, wie es die harte Science Fiction zu führen versteht, gehört nicht zum Instrumentarium dieser Literatur. Sie ist laut, sie ist vulgär und manchmal sieht sie chromlackiertem Trash zum Verwechseln ähnlich. Wäre es ihr möglich, sie wäre das Gegenteil von Literatur. Gerade deswegen aber besitzt sie enorme Erschliessungskraft für eine Wirklichkeit, die eigentlich keine literarischen Strukturen, kein Raisonnement, keine klassischen Handlungsbögen und keine Tragik mehr besitzt, eine Wirklichkeit, in der Schreiben nicht mehr als eine grafische Repräsentation von Algorithmen ist. Wenn sich die literarische Kultur also ganz und gar in Daten verwandelt haben wird, dann ist der Cyberpunk das, was von dieser Kultur übrigbleibt: ein Hack in Romanform, die Demolierung von Codes, die Zweckentfremdung der Rechner, die ja eigentlich nicht erzählen, sondern eben rechnen sollen. Die programmatische Grösse des Cyberpunk besteht genau darin, dass er aus einer Welt zu uns spricht, in der die Kulturtechnik des Erzählens nur noch eine unter den Daten verschüttete Erinnerung darstellt, die erst aus den Abfällen der digitalen Realität, aus dem Datenmüll gerettet werden muss, ehe man von ihr Gebrauch machen kann.

 

DAS DUNKLE EIGENLEBEN DER DATEN

 

 

Was den Cyberpunk – in Gestalt etwa von William Gibsons «Neuromancer» (1984) oder Rudy Ruckers «Ware»-Tetralogie (1982–1998) – einst zum Katalysator der verdrängten, technikbezogenen Problemlagen des späten 20. Jahrhunderts hat werden lassen, das sind seine dystopischen Analysen einer datengerechten Gesellschaft. Die Sozialprognostik des Cyberpunk ist heute fester Bestandteil der Diskussionen um die Zukunft der Daten, ihre Vermassung, ihre Allgegenwart und ihr Eigenleben. Es sind Visionen der Angst: Die Vernetzung von privaten und öffentlichen Daten, von Gesundheitsparametern und volkswirtschaftlichen Kennzahlen, von virtuellen Freundschaften, Terrorfahndungsdatenbanken und Passagierlisten führt geradewegs in eine Welt, in der Korporationen unmittelbaren Zugriff auf das Leben ihrer Bediensteten haben (wie in Lewis Shiners «Frontera»), in der die gesundheitliche Fürsorge restlos zum Geschäft von Herzendealern und halbseidenen Biochipsverkäufern geworden ist (wie in Ruckers «Software») und in der Kriege vor allem anderen Cyber Wars sind (wie in Gibsons «Count Zero»). Dort, wo die Daten einen Selbstwert erhalten, wo man ihrer Speicherung, Vermehrung und Vernetzung Geld, Zeit und Energie unterordnet, da lassen sie über kurz oder lang die Ressourcen knapp und das menschliche Leben hart werden, so dass man es am Ende des Tages mit Massen prekarisierter Hightechexperten zu tun bekommt, die sich in verödeten Innenstädten als Auftragskiller oder Prostituierte verdingen müssen.

Dass an den Menschen im Reich der Daten nicht mehr gedacht ist, dass sogar das Bewusstsein – gescannt, «bargecodet» und ausgewertet – sich algorithmisch simulieren lasse und somit nicht mehr hinter die Daten zurückführe, dass also selbst die Überzeugung, ein Mensch zu sein, eine digital fabrizierte Illusion sein könnte – das liesse sich in der Tat aus den endzeitlichen Landschaften des Cyberpunk herauslesen.

 

DIE DIGITALE NATUR

 

 

Dem Cyberpunknarrativ folgend gilt: Wenn Big Data unsere Lebenslogik bestimmen soll, dann werden wir am Ende der Geschichte alle Androiden sein, austauschbare und wiederverwendbare Speichermodule in einer schadenanfälligen Transporthülle. Und was noch schlimmer ist: Wir werden das nicht einmal wissen. Zweifellos machen die Vorstellungswelten des Cyberpunk ernst mit dem – zuletzt von der Netzphilosophin Mercedes Bunz auf den Algorithmus bezogenen – Philosophem von der Technik «als zweiter Natur des Menschen». So ernst sogar, dass in ihnen die zweite Natur die erste nach und nach verdrängt, der menschliche Körper zur «Wetware» herabsinkt, die Roboter sich in Organismen verwandeln. Das ist eigentlich ganz in Ordnung so, denn die Daten brauchen den Menschen, diesen instabilen Informationsspeicher, ja auch nicht. Und womöglich wären wir sogar selbst ganz dankbar für seine Ablösung. In der Auseinandersetzung um Big Data ist diese posthumane Erzählung als Fluchtpunkt im Cyberpunk dann auch stets präsent. Aber sie bleibt eine Fehllektüre, eine Missdeutung der informationellen Zukunft.

Das Problem der uns umgebenden Datenwelt ist ein ganz anderes. Die Daten werden zur Natur, sie sind es uns schon geworden, denn viel zu viele sind es, um sie entziffern, zu Informationen verarbeiten zu können. Deswegen sind es auch nicht «unsere» Daten, längst haben sie sich verselbstständigt, sich eine eigene Lebenssphäre geschaffen. Wie die Natur den ersten Menschen, so steht uns das Datengeflecht unverwandt gegenüber; es macht uns Angst, weil es bei uns ist, weil es lebendig ist und sich doch nicht mit uns verständigt. Aus dieser Schreckstarre hat den Menschen seit jeher aber nur eines führen können: das Erzählen, der Mythos, der ihm erklären konnte, welche Bedeutung diese Wirklichkeit für ihn hat, wo sie herkommt und welchen Platz er in ihr einnimmt.

 

URHEBER DER INFOKALYPSE


Die Naivität von Big Data besteht in der Annahme, dass die Daten keine Götter, keine Ursprungserzählungen und keine Verheissungen brauchen. In der Weigerung, ihnen eine eigene Mythologie mitzugeben. Genau die Arbeit an dieser Mythologie aber ist die eigentliche Aufgabe des Cyberpunk. Cyberpunk stellt die Frage, wie sich die Gegenwart in einer Welt anfühlt, in der Entwicklungsetappen wie Big Data längst realisiert worden sind. In einer Welt etwa, in der jeder Pizzabote digital getrackt und bei verspäteter Lieferung per Knopfdruck liquidiert wird. In einer Welt vielleicht, in der Menschen sich in Avatare verwandeln, sich auf virtuellen Boulevards verabreden und sich dort in japanischen Schwertkämpfen den digitalen Garaus machen. Oder in einer Welt, in der – wie in Neal Stephensons 1992 erschienenem Roman «Snow Crash» – die von den Daten beherrschte Wirklichkeit das Ergebnis eines neurolinguistischen Virus ist, den ein sumerischer Programmierer namens Enki in die Welt gesetzt hat, der Urheber der Infokalypse: Aus einer Programmiersprache wurden viele, das universale Informationssystem der menschlichen Kultur zerfiel und wurde beerbt vom Reich der «Software». Wir nannten es Babel.

Auf solche Geschichten stösst, wer sich in die Tiefen des Datennetzes begibt. Erst dort unten, bei den Mythen, wird er in Erfahrung bringen können, warum die Zusammenführung aller Informationen ein Ziel sein kann: weil nämlich nur zusammengeführt werden soll, was einmal eins war. Vor der babylonischen Katastrophe ist es die Bestimmung der Menschheit gewesen, ein Zentralrechner zu sein; nach Big Data wird sie zu dieser Bestimmung zurückkehren können.

Wer aber ist das Subjekt dieser Vereinigung, wer wünscht sie? Es müsste schon ein Wesen sein, das mit dieser Datenmenge auch etwas anzufangen weiss, eine Existenz, für die von der Vereinigung des Getrennten Wesentliches abhängt. Eine künstliche Intelligenz wie Tom Maddox’ Memex oder Gibsons Wintermute zum Beispiel. Denn wenn das Universum lebt, dann muss die Maschine, die das Universale berechnen will, selbst lebendig werden. Das ist das Grundaxiom einer jeden Datenmetaphysik. Und so verhandeln wir, indem wir über das Für und Wider von Datenerhebungen und Datenspeicherungen streiten, nicht nur die rohe Materialisierung unserer Seele durch die Computer, sondern vielmehr die Psychisierung der Materie. Der Geist fährt in die Maschine: Wir reden über Auferstehungsmythen und es bleiben Auferstehungsmythen, auch wenn wir ihnen Namen wie «Weltalgorithmus» geben.

An diesen Mythen ist nichts Schlechtes. Erst sie verwandeln technisches Potenzial in digitale Kultur, zumindest könnten sie es, wenn man sich zu ihnen bekennen würde. Dass man sich ihnen gegenüber blind zeigt, ist gleichwohl verständlich, denn sie verletzen unseren Stolz. Wer den Cyberpunk ernst nimmt, der weiss, dass Big Data kein evolutionärer Höhepunkt menschlicher Selbststeuerungskunst, sondern nur ein Phänomen, eine Episode in einem Monumentalroman sein kann. Man kann diesen Roman für schlecht geschrieben, ja für literarisches Altmetall halten. Wer aber will, dass wir uns den Daten anvertrauen, der sollte zumindest auch in der Lage sein, von ihnen zu erzählen.

 

Philipp Theisohn ist Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Zürich. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen unter anderem die futurologische Fiktion und die literarische Arbeit im digitalen Zeitalter. Gegenwärtig leitet er das Forschungsprojekt «Conditio extraterrestris. Das bewohnte Weltall als literarischer Imaginations- und Kommunikationsraum 1600–2000» am Deutschen Seminar der Universität Zürich.

 


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