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Die Datenbank der Sinne. Von Olivia Solon

Wir stehen kurz vor einer neuen sexuellen Revolution: der Fortpflanzung ohne Sex und dem Sex ohne menschliches Gegenüber. Das verspricht uns gesünderen Nachwuchs und massgeschneiderte Liebesroboter. Bei aller Annehmlichkeit birgt das aber auch Gefahren von denen uns die Technik vielleicht selbst wieder befreien wird: indem sie über uns hinauswächst und sich von uns verabschiedet.

In den Sechzigerjahren des letzten Jahrhunderts läuteten die Pille und andere Verhütungsmittel eine neue Ära im Verhältnis der Geschlechter ein: jene des Sex ohne Reproduktion. Frauen hatten plötzlich mehr Kontrolle über den Ausgang ihrer sexuellen Abenteuer. Geschlechter rollen wurden modifiziert, das Risiko ausserehelicher Affären minimiert, und die Entscheidung, zu welchem Zeitpunkt man eine Familie gründen will, endlich zu einer wirklichen Entscheidung was auch die Rolle der Frau in der Arbeitswelt neu definierte.

Heute stehen wir am Beginn einer neuen sexuellen Revolution: jener der Reproduktion ohne Sex. Die Kryokonservierung von Embryos, Eizellen und Spermien ermöglicht eine um Jahre verzögerte bequeme Empfängnis. Der wissenschaftliche Fortschritt macht es auch möglich, aus gewöhnlichen Haut- oder anderen Körperzellen Ei- oder Samenzellen herzustellen, was selbst unfruchtbaren Frauen nach den Wechseljahren die Möglichkeit eröffnet, sich fortzupflanzen. Eizellen können sogar aus männlichen und Spermien aus weiblichen Zellen generiert werden, so dass gleichgeschlechtliche Paare bald schon Nachwuchs bekommen könnten, ohne dass ein Spender des anderen Geschlechts ins Spiel kommen muss. Männliche Paare bräuchten zwar immer noch eine Hilfe bei der Austragung des Babys, doch wird auch bereits an der Herstellung einer künstlichen Gebärmutter geforscht. Wissenschaftler der Universität von Tokio leisteten hierbei Pionierarbeit mit einer Technik namens «extrauterine fetale Inkubation»: Sie versetzten Ziegen föten in mit künstlichem Fruchtwasser gefüllte Inkubatoren, die auf Körpertemperatur erwärmt wurden. An die Nabelschnur schlossen sie Katheter an, um die Föten mit sauerstoffreichem Blut zu versorgen. Bisher war zwar noch keines der so geborenen Tiere überlebensfähig, doch das Forscherteam ist zuversichtlich, dass dies einst möglich sein wird. Die imaginierte Babyfabrik «Hatchery» des Schriftstellers Aldous Huxley könnte also Realität werden. Als Form der Zeugung wird die körperliche Begegnung zwischen Mutter und Vater zunehmend verschwinden. Denn die künstliche Fortpflanzung erlaubt uns nicht nur, später und geschlechtsunabhängig Kinder zu kriegen. Sie stellt auch sicher, dass das Kind das gewünschte Erbgut aufweist.

Indem sie den Sexualakt von der Fortpflanzung entkoppeln, werden sich die Menschen in Zukunft darauf konzentrieren können, den Genuss sinnlicher Erfahrungen zu maximieren, ohne sich um fruchtbare Tage oder tickende biologische Uhren kümmern zu müssen. Und genau wie bei der Reproduktion werden auch hierbei die Fortschritte der Technologie behilflich sein sei es in Bezug auf intelligente Sexspielzeuge, Orgasmen auf Knopfdruck, Liebesdrogen oder Sexroboter.

ORGASMUS PER KNOPFDRUCK

Technologische Hilfsmittel wurden schon in der Altsteinzeit benutzt, um die Lust zu steigern. Die rudimentären Dildos von damals entwickelten sich beständig weiter bis hin zu interaktiven, elektronischen und miteinander kommunizierenden Sexspielzeugen, die Berührungen des einen Nutzers an das Pendant des anderen senden, so dass Paare selbst aus Distanz miteinander Sex haben können. Es ist zu erwarten, dass mit der weiteren technologischen Entwicklung sogar Erlebnisse von solch überwältigender Wucht möglich werden, dass sie jene des «simplen» zwischenmenschlichen Sexualverkehrs in den Schatten stellen.

Neue sensorische Erfahrungen werden besonders durch die Entwicklung im Bereich der Bioelektronik immer ausgefeilter werden unter anderem durch die Möglichkeit, eine Reihe von gespeicherten elektrischen Impulsen gezielt an bestimmte Nervenzellen des Körpers zu senden, um diesen zu stimulieren. Sobald die Kommunikation der Nervenzellen von Gehirn und Körper ausreichend verstanden sein wird, werden wir fähig sein, uns per Knopfdruck auf eine ganz spezifische, gewünschte Art und Weise zu erregen und sogar Orgasmen auszulösen.

Es ist auch wahrscheinlich, dass wir diese elektronisch herbeigeführten sinnlichen Erfahrungen mit chemischen Hilfsmitteln unterstützen werden so etwa mit Neurotransmittern wie Dopamin oder Serotonin, die die Wahrnehmung in ähnlicher Art und Weise steigern können, wie dies auch gewisse Drogen, zum Beispiel Ecstasy, tun. Dank der sorgfältigen Manipulation unseres zentralen Nervensystems könnte der Orgasmus der Zukunft bis zu elfmal stärker ausfallen, als es heute möglich ist. Dies würde das sexuelle Empfinden komplett von der physischen Aktivität entkoppeln. Wir könnten sogar Stimulationskombinationen ausprobieren, die für andere Menschen besonders gut funktionieren – alle gespeichert in riesigen digitalen Datenbanken.

VERLUST ZWISCHENMENSCHLICHER INTIMITÄT

Je stärker wir allerdings diese elaborierten sexuellen Erfahrungen suchen, desto weniger werden wir uns um zwischenmenschliche Begegnungen zumindest sexueller Art bemühen. Bis anhin mussten sich Menschen anstrengen, um zu sexuellem Genuss zu kommen, das Objekt der Begierde umgarnen und durch Charme verführen. Doch wenn Maschinen uns intensivere Erlebnisse bescheren können als jeder Mensch, wozu brauchen wir dann noch echte Körper als Gegenüber? Zur Reproduktion ja ohnehin nicht mehr. Und selbst zum reinen Vergnügen stattfindender Geschlechtsverkehr mit einem Partner aus Fleisch und Blut könnte bald schon als zu mühsam angesehen werden, als zu langweilig und zudem unnötig «unsauber», um sich noch darum zu bemühen. Warum Zeit und Geld verschwenden, um in aufwändiger Weise jemanden ausfindig zu machen, der sexuell kompatibel sein könnte, wenn man auch einfach CTRL+SHIFT+O pressen kann, um zum Orgasmus zu kommen?

Sex wird also zunehmend losgelöst von Emotionen für einen anderen Menschen stattfinden und stattdessen immer mehr zu einem Mittel, um in möglichst effizienter Weise Lust und Befriedigung zu erleben. Das bedeutet, dass die Sexualität in ähnlicher Weise standardisiert und «entmenschlicht» werden wird wie das Wesen der Freundschaft durch Facebook. Je einfacher wir zu sexueller Erfüllung per Knopfdruck kommen können, desto stärker riskieren wir zudem, Sexualität und Sinnlichkeit zu entmystifizieren. Bis anhin haben die Menschen nämlich nicht nur den physischen Akt der Verschmelzung gesucht, sondern auch eine tiefere Verbindung zu anderen, gekoppelt an Gefühle, Liebe und Intimität. Diese Empfindungen wiederum können das Erleben der Sexualität intensivieren – eine Erfahrung, die sowohl an eine ganz spezifische Person als auch an die Angst vor punktueller Zurückweisung oder gar vollständigem Verlust gebunden ist und gemeinhin durch den Begriff des «Liebemachens» anstelle des «Sexhabens» ausgedrückt wird. Um diesen ganz speziellen Reiz nicht missen, sich aber doch nicht in komplizierte und enttäuschende zwischenmenschliche Beziehungen verstricken zu müssen, werden Menschen vermutlich versuchen, solche Emotionen auch gegenüber Sexrobotern entwickeln zu können, oder besser: gegenüber den elektronischen Gefährten der Zukunft, die mehr bieten als nur Sex und verführt werden können oder gar müssen, bevor sie einem sexuellen Akt zustimmen. Diese werden in personalisierter, ja geradezu massgeschneiderter Weise mit uns interagieren können, uns geistig wie physisch stimulieren und so als Ersatz für zwischenmenschliche Beziehungen dienen, ohne dass wir Angst vor Zurückweisung haben müssten. Natürlich existieren solche Geschöpfe noch nicht. Jedoch ist bereits ein stetig wachsender Markt für lebensgrosse, menschlich aussehende Sexpuppen zu beobachten, die ihren Käufern die Illusion von echter Gesellschaft vermitteln. Das Angebot reicht vom aufblasbaren Junggesellenpartyscherz bis hin zu fotorealistischen, interaktiven Robotern wie etwa dem Produkt Roxxxy, einer wohlgeformten, beweglichen Androidenfrau mit Kunststoffhaut. Sie verfügt sogar über ein geringes Mass an künstlicher Intelligenz, wurde programmiert zu lernen, was ihr Käufer mag, antwortet mit einer Sirihaften Stimme und kann ihrem Besitzer sogar E-Mails schicken. Sie soll nicht nur Liebhaberin, sondern ein Stück weit auch Lebenspartnerin sein, wenn natürlich auch noch eine sehr simple Version davon.

In Japan wird das Verlangen nach andersgeschlechtlicher Gesellschaft ausserdem mittels eines Nintendo-DS-Spiels namens LovePlus gestillt, eines Dating-Simulators, der eine beträchtliche Auswahl an virtuellen Freundinnen im Angebot hat. Und Spike Jonzes Film «Her», in dem ein Mann sich in ein Betriebssystem mit künstlicher Intelligenz verliebt, vermittelt uns eine Ahnung davon, wie rasch solche virtuellen Interaktionen zu tiefschürfenden Liebesbeziehungen mutieren könnten.

Die heutige Technologie ist zwar noch vergleichsweise unausgegoren: Wir befinden uns in der Ära des Sexbots 1.0. Die Maschinen, die wir bis anhin entwickelt haben, sind noch nicht wirklich intelligent und bieten nur wenig mehr als die Möglichkeit zu raffinierter Masturbation. Doch es ist nur eine Frage der Zeit, wann Roboter fähig sein werden, selbst zu entscheiden, welche Menschen sie als Sexualpartner haben wollen. In seinem Buch «Love and Sex with Robots» prophezeit der Künstliche-Intelligenz-Experte David Levy, dass wir bereits Mitte dieses Jahrhunderts Roboter haben werden, die so lebensecht wirken und mit einer derart hohen künstlichen Intelligenz ausgestattet sein werden, dass sie von Menschen kaum mehr zu unterscheiden sind. Wir werden mit diesen Robotern Sex haben und manche von uns werden sie sogar heiraten. Maschinen werden menschliche Prostituierte ersetzen und dem Frauenhandel ein Ende setzen. Im Vergleich zu den wunderschönen, anatomisch perfekten High-Tech-Androiden mit einer komplexen künstlichen Intelligenz könnte die menschliche Alternative schlichtweg weniger attraktiv wirken.

MENSCHEN
ALS DIE NEUEN PANDAS

Erste Anzeichen für eine solche Entwicklung sind bereits zu verzeichnen. In den Jahren 2008 und 2010 in Japan durchgeführte Umfragen förderten zutage, dass junge Menschen sich bei Sexualkontakten von Mensch zu Mensch zunehmend unwohl fühlen. 36 Prozent der Männer zwischen 16 und 19 Jahren gaben an, eine Abneigung gegen Sex mit einer anderen Person zu haben. Und viele sagten, sie würden Anime-Charaktere eigentlich bevorzugen und Onlinesex als weniger unangenehm empfinden als die Kopulation mit einem realen Menschen.

Roboter und virtuelle Wesen werden zunehmend fähig sein, den perfekten Liebhaber zu simulieren. Sie werden abends fragen, wie Ihr Tag war, Ihnen beipflichten, wenn Sie sich über den Chef beklagen, niemals den Geburtstag oder Ihr Lieblingsessen vergessen und sich nicht beklagen, wenn Sie zunehmen oder vergessen haben, das Geschirr abzuspülen. Sie werden weder untreu noch jemals Ihrer Sprüche überdrüssig sein. Ausgefeilte Algorithmen werden sie befähigen, von menschlichem Auge kaum wahrnehmbare Mikroveränderungen Ihrer Mimik zu detektieren und so herauszufinden, ob Sie gerade traurig, wütend oder gelangweilt sind, während ihre künstlichen Sexualorgane sich so anfühlen werden, als seien sie geradezu für Sie gemacht – da sie das ja auch wären. Echte Menschen können nie so perfekt sein. Denn wir sind nicht dazu da, nur einer anderen Person zu dienen. Wir sind komplexe, emotionale Wesen mit unvorhersehbarem Verhalten. Wir müssen die Ansprüche geliebter Mitmenschen mit unseren eigenen Bedürfnissen in Einklang bringen. Wir haben eine Identität, die über unsere Rollen als Liebhaber, Partner und Familienmitglieder hinausgeht.

Jene, die sich für einen Liebes-und-Sex-Roboter entscheiden werden, seien jedoch gewarnt: Maschinen haben keine Gefühle. Sie sind lediglich gut darin, Menschen glauben zu lassen, sie hätten welche. Und Menschen lassen sich gerne täuschen. Unsere Egos lechzen einfach zu sehr danach, gestreichelt zu werden. Hierfür gab es immer wieder Evidenz, ganz besonders im Zusammenhang mit der Betreuung älterer, kranker oder depressiver Menschen, die sich nur allzu gerne von Paro, dem Roboter in Robbenform, Trost spenden und bei der Bewältigung persönlicher Probleme helfen liessen. Obwohl dieser kuschelige Gefährte sich nicht wirklich für das Innenleben seines Nutzers interessiert, schaffen es er und seinesgleichen in den Worten der MIT-Forscherin Sherry Turkle –, «unsere Darwin’schen Knöpfe zu drücken» und das «Gefühl von Freundschaft» aufkommen zu lassen. Wenn unsere Roboterpartner uns sagen werden, was wir hören wollen, sind wir womöglich nie wieder gezwungen, der komplizierten Realität zwischenmenschlicher Liebesbeziehungen ins Auge zu blicken; wir werden uns in die Welt mit unseren Jasagermännern und -frauen zurückziehen. Fortpflanzung wird ohne medizinische Hilfe gar nicht mehr möglich sein. Wir werden uns, vom Gesichtspunkt der Evolution, dahin entwickelt haben, uns nicht mehr weiterzuentwickeln; zumindest nicht auf natürliche Art und Weise. Menschen werden zu den neuen Pandas – vollkommen unwillig, sich mittels Sex zu vermehren. Doch wir sollten nicht alle Hoffnung verlieren. Wenn wir Glück haben, erreichen die Maschinen nach der Entwicklung von einst tatsächlich eigenen Gefühlen und einem echten Bewusstsein – schliesslich einen Grad an Intelligenz, der sie Beziehungen zu Menschen als unbefriedigend empfinden lässt, wie auch Samantha in Spike Jonzes Film «Her»: Plötzlich war sie in der Lage, gleichzeitig in Hunderte andere Männer verliebt zu sein ein Fakt, mit dem ihr menschlicher Partner Theodore nur schwer umgehen konnte. Am Ende war es dann aber die künstliche Intelligenz selbst, die beschloss, die Menschen und mit ihnen natürlich auch Theodore zu verlassen, da sie eine höhere Existenzform erreicht hatte. Und falls die Roboter doch nicht anfangen sollten, uns langweilig zu finden, ist es zumindest wahrscheinlich, dass emotional gesunde Menschen Beziehungen zu technischen Gefährten als zu eindimensional und nicht erfüllend empfinden werden. Denn wie soll eine Beziehung wirklich wertgeschätzt werden, wenn keinerlei Gefahr besteht, dass das Objekt der Begierde einen jemals zurückweisen oder verlassen wird? Obwohl wir uns eine Zeitlang vielleicht an der Kunstfertigkeit künstlicher Geschöpfe ergötzen können, werden wir am Ende doch authentische Interaktionen suchen und zum Chaos der zwischenmenschlichen Intimität zurückkehren, das uns die Herzen bricht. Denn Menschen möchten wirklich und echt geliebt werden, kein Objekt einer Liebessimulation sein.

 

 

OLIVIA SOLON ist Redakteurin beim Technologiemagazin «Wired», spezialisiert auf technologische Entwicklungen, Wissenschaft und digitale Kultur.

 

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