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Nano-Eis und Salamandercocktail. Gespräch mit Natalie Jeremijenko

Von Simone Achermann

Wir müssen unsere Beziehung zur Ernährung neu definieren, indem wir anfangen, unser Essen und uns selbst als Teil des Ökosystems zu betrachten, sagt die Umweltkünstlerin und Wissenschaftlerin Natalie Jeremijenko. Gesund ist in Zukunft nicht nur, was gut für uns ist, sondern auch für die Tiere, von denen wir uns ernähren, wie für den Raum, in dem wir alle leben.


Frau Jeremijenko, Sie befassen sich in Ihren Projekten intensiv mit der Ernährung von morgen. Wie sollte das Menü der Zukunft aussehen?

Ich habe kein Rezept dafür, was wir Menschen in Zukunft essen sollten. Aber ich bin überzeugt: Was auch immer wir zu uns nehmen, muss auf einer neuen Beziehung zu unserer Ernährung beruhen. In den letzten Jahrzehnten war bereits eine Verschiebung hin zu gesünderem und nachhaltigerem Essen zu beobachten. Doch einfach die Anzahl ungesunder Zutaten und unseren Fleischkonsum zu reduzieren, reicht nicht aus. Im Grunde ist das sogar das pure Gegenteil eines Wandels.


Können Sie das erklären?

Menschen sind in der Regel nicht sehr abenteuerlustig, wenn es ums Essen geht. Sie sind sich zwar der negativen Folgen von zu viel Fett oder Zucker bewusst und verurteilen die Ausbeutung natürlicher Ressourcen. Sie gehen diese Probleme aber nicht in einer Art und Weise an, die zu einer echten Veränderung führt. Nehmen wir den Nachhaltigkeitstrend als Beispiel: Wenn mir eine Freundin sagt, sie lebe in einer nachhaltigen Beziehung, dann rate ich ihr, ihren Freund zu verlassen. Nachhaltig bedeutet lediglich,

Dinge länger aufrechtzuerhalten, selbst wenn sie schlecht sind. Dies gilt auch für unsere Ernährung. Wir sollten nicht nur versuchen, den Verbrauch zu mässigen, sondern unsere Beziehung zur Nahrung neu zu definieren. Das bedeutet für mich, dass wir der enormen Komplexität unserer Ernährung Rechnung tragen und sie als wesentlichen Teil unseres Ökosystems betrachten.


Wie gelingt uns das?

In der Tat ist das Essen unsere direkteste tägliche Verbindung zum Ökosystem. Davon müssen wir profitieren. Und zwar indem wir unsere Ernährung so gestalten, dass sie nicht nur den Schaden für die Umwelt reduziert, sondern ihren Zustand sogar verbessert. Gesund essen sollte bedeuten, dass unsere Verpflegung nicht nur für unseren eigenen Körper gut ist, sondern auch für jenen der Tiere, von denen wir uns ernähren, sowie für den Raum, in dem wir alle leben. Erst wenn es der Menschheit gelingt, ihren Blick von der individuellen Gesundheit auf jene des gesamten Ökosystems zu lenken, ist sie bereit, über die Zukunft der Ernährung nachzudenken. Mit unserem «Abenteuerclub der gemischten Spezies» versuchen wir, einen Schritt in diese Richtung zu gehen.


Worum geht es bei diesem Projekt genau?

Es ist ein «Dinner-Club» für Menschen und Nichtmenschen, in dem wir den Möglichkeiten unserer künftigen Nahrung nachspüren. An jeder Veranstaltung werden fünf Gänge aufgetragen, die für Menschen und Nichtmenschen nahrhaft wie lecker sind und gleichzeitig den Zustand unserer Umwelt verbessern. Zum Beispiel haben wir den «Ködercocktail» entwickelt. Er besteht aus Angelködern, die sowohl für Fische als auch Menschen essbar sind und aus einem Algenderivat namens Gellan hergestellt werden. Gellan bindet das Quecksilber, das Fische in verschmutzten Gewässern unbeabsichtigt aufgenommen haben, und ermöglicht es den Tieren, dieses mit dem Kot wieder aus ihrem Körper herauszuschwemmen. Dadurch, dass das Quecksilber durch die Verbindung mit der Alge zu einer neuen, unschädlichen Zusammensetzung findet, hält es nicht nur die Fische gesund, sondern reinigt gleichzeitig auch das Wasser.


Nur wird es schwierig werden, den Leuten Algenköder schmackhaft zu machen.

Zugegeben, punkto Schmackhaftigkeit war das nicht das beste Beispiel. Dafür das «Wasserbüffel-Nano-Eis» – eines meiner Lieblingsprodukte. Es schmeckt nicht nur unglaublich gut, sondern ist auch nahrhaft und trotzdem leicht. Die Kombination von flüssigem Stickstoff und Büffelmilch macht die Eiskugel so richtig crèmig. Wasserbüffelmilch hat zudem einen höheren Proteingehalt, weniger Fett und mehr Nährstoffe als Kuhmilch. Und die Tiere benötigen erst noch weniger Weideland als Kühe, was uns grosse Flächen von einst umfunktionierten Feuchtgebieten zurückbescheren könnte. Und dies könnte uns wiederum dabei helfen, das grösste Artensterben zu verhindern, das die Erde seit dem Verschwinden der Dinosaurier erlebt hat: das Aussterben der Amphibien. Wenn wir wieder Sumpfmalven haben, die ja bekanntlich hochwirksame Stoffe gegen die gefährliche Pilzerkrankung Chytridiomykose enthalten – den Hauptgrund für das weltweite Amphibiensterben –, hätten wir auch wieder Amphibien. Und wir könnten endlich wieder echte Marshmallows essen, hergestellt aus der Malve («mal low») aus dem Moor («marsh»). Küssen wir nach dem Verzehr einen Frosch, können wir ihn vor dem Tod bewahren, weil unsere Lippen mit der Chemikalie aus der Malve «geimpft» sind. Sie sehen auch an diesem Beispiel, wie komplex die Wechselwirkungen unserer Ernährung sind – und wie wunderbar.


Nano-Eis und Algenköder klingen aber ziemlich technisch: Kommt unsere Nahrung in Zukunft vorwiegend aus dem Labor?

Überhaupt nicht. Die erwähnten Beispiele sind nicht so kompliziert oder technisch, wie das vielleicht klingt. Sie sind bloss neu für uns. Ein Grossteil des Essens, das wir in unserem Club servieren, sind Do-it-yourself-Rezepte, teilweise oder sogar ganz von unseren Teilnehmern produziert. Ein Grund, warum diese Parties so viel Spass machen, ist nämlich, dass man auch einmal etwas verschütten oder vermasseln kann. Es ist ein herrlich verspielter Weg, sich an neue Esserlebnisse heranzutasten. Ich persönlich finde es furchtbar langweilig, in eine Bar zu gehen und jemanden dafür zu bezahlen, mir einen Drink zu mixen, den ich mir geradesogut auch selber hätte machen können.


Und wie steht es mit künstlich hergestelltem Fleisch?

Es gibt keinen Grund dafür, tierische Proteine im Labor herzustellen. Es ist unglaublich teuer und macht auch aus energetischer Perspektive keinen Sinn. Ich bin ohnehin nicht der Meinung, dass wir aufhören sollten, echtes Fleisch von echten Tieren zu essen. Ich bin gegen die vegetarische und die vegane Ernährungsweise – weil beides Diäten sind. Sie ignorieren wichtige Nahrungsquellen und sind von einem eher negativen Umgang mit Essen geprägt. Ich bin überzeugt, dass wir bessere Wege finden können, um uns zu ernähren, ohne auf Fleisch zu verzichten. Das Erste, was wir tun sollten, ist es, die Tiere ein besseres Leben führen zu lassen. Das bedeutet: Sie sollten leben können, so lange die Natur es ihnen erlaubt, sich ihre Geschlechtspartner selber aussuchen und mit ihnen Sex haben, wann sie wollen, sowie sich in ihrer Umgebung frei bewegen, diese also selber verwalten, ohne dass Menschen dazwischenfunken. Diese Weise der Tierhaltung verbessert auch die Gesundheit der Umwelt, da sie die Biodiversität fördert. Sie ist das pure Gegenteil von biologischen Bauernhöfen, auf denen alles kontrolliert wird: was die Tiere essen, mit wem sie sich paaren und so weiter. Wir müssen wieder einen natürlicheren Umgang mit unserer Nahrung finden. Wir sollten die Tiere essen, nachdem sie ein langes und gutes Leben hatten. Und uns von den Überschüssen der Natur ernähren. Ein gutes Beispiel hierfür sind Amphibien, deren Biomasse doppelt so gross ist wie jene aller Säugetiere. Ausserdem existiert sogar eine Salamanderart, die ihren Schwanz abwerfen kann – ein Modell der Fleischproduktion, das den Organismus weiterhin am Leben lässt und eine natürliche Überproduktion als Ernährungsgrundlage nutzt.

Salamander sind aber nicht gerade omnipräsent in unserem Leben.

Das ist genau der Grund, weshalb wir unsere Städte lebenswerter machen müssen für viele Tierarten, die wir essen könnten. Wir müssten, wie bereits gesagt, mehr Feuchtgebiete schaffen, und schon hätten wir Salamander. Oder anstatt Schnecken zu vergiften, sollten wir auch für sie das urbane Gebiet angenehmer gestalten. Denn Schnecken können nicht nur gegessen werden. Man kann

sie sozusagen melken – ohne ihnen einen Schaden zuzufügen –, indem man sie ein wenig schüttelt, so dass sie Schneckenschleim produzieren, einen sehr wertvollen Wirkstoff für Kosmetika, insbesondere wundheilende und Anti-Ageing-Produkte. Es lassen sich absolut hochwertige Produkte aus Schnecken herstellen, aber immer noch führen wir Krieg gegen sie. Das müssen wir ändern.


Nur: Wie bringt man die Leute dazu, Schnecken zu essen anstatt Beef Tatar?

Ich glaube, dass in jeder und jedem von uns Entdeckerfreude steckt. Sehen Sie sich doch nur mal die Kinder an: Die stecken sich alles und jedes in den Mund. Das sollten wir auch als Erwachsene wieder lernen. Und ich bin überzeugt, dass wir das könnten. Als wir die Salamandercocktails servierten, kosteten alle davon, und alle waren hell begeistert, wie gut es schmeckte. Sie waren sogar richtiggehend enttäuscht, als ich ihnen gestand, sie hätten gar keinen echten Salamander gegessen, sondern Schwänze, die ich aus Gellan geformt hatte.


Also doch keine echten Salamanderschwänze auf unseren Tellern von übermorgen?

Nun, wie erwähnt: Wir müssen zuerst neue Lebensräume für Salamander schaffen. Im Moment sind sie vom Aussterben bedroht und es würde sich ziemlich schlecht machen, einen der letzten Überlebenden dieser Spezies aufzutischen. Was mir bei meinem Projekt jedoch wirklich wichtig war: zu zeigen, dass die Leute durchaus bereit waren, den Cocktail zu versuchen.

Um das Ganze etwas herunterzubrechen: Können Sie drei einfache Wege nennen, wie man die Leute dazu bringt, ihre Ernährung neu zu denken?

Eigentlich glaube ich nicht, dass es darum geht, Dinge einfach zu machen – sondern vielmehr darum, uns alle dazu einzuladen, die Komplexität unseres Nahrungssystems wieder wahrzunehmen. Die Hauptfrage ist: Wie können wir so viele Menschen wie nur möglich dazu animieren, unsere Ernährungsprobleme zu lösen? Also wird es mit Sicherheit nicht einfach sein. Aber wir können es uns selber erleichtern, diese Reise anzutreten, indem wir Nahrung interessant machen und andere dazu ermuntern, mit ihr zu experimentieren.


Was ist Ihr Leibgericht der Zukunft?

Blumen. Nicht nur auf einem Salat oder einem Kuchen, sondern als eine Hauptnahrungsquelle. Blumen sind sehr nahrhaft und enthalten Antioxidationsmittel, die der Stadtmensch dringend braucht. Ausserdem können wir sie einfach in Städten anpflanzen. Ich bin gegen industriell betriebene, urbane Landwirtschaft; nicht zuletzt, da sie zu den ländlichen Anbaugebieten in Konkurrenz tritt. Aber ich würde mich sehr freuen, überall kleine Gärten, Dächer, Balkone oder Fensterbretter mit essbaren Blumen zu sehen. Denn diese sind nicht nur gesund, sondern reinigen auch die Luft und verschönern erst noch unsere Städte.

 

NATALIE JEREMIJENKO ist Ernährungsexpertin, Künstlerin und Professorin am Departement für visuelle Künste der New York University, an der sie auch Computerund Umweltwissenschaften unterrichtet. Nach einer Ausbildung in Biochemie, Physik und Neurowissenschaften galt ihr Interesse zunehmend der Wechselwirkung von Gesellschaft, Umwelt und Technologie, wobei sie auch immer wieder mit spektakulären Kunstaktionen für Aufsehen sorgt, die das Bewusstsein für die gegenseitige Abhängigkeit von Mensch und Umwelt schärfen. Selber bezeichnet sie ihre Arbeit gern als experimentelles Design und sich selbst als «thingker».

 

 

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