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Aufbruch zur alterslosen Gesellschaft. Von Stephan Sigrist

Das Silicon Valley macht sich auf, den ultimativen Menschheitstraum zu erfüllen: die Abschaffung des Todes. Die Schlüssel dazu sind Daten sowie der unerschütterliche Glaube, dass sich alle Probleme technisch lösen lassen. Als Nebenprodukt könnte einer der grössten Wachstumsmärkte der Menschheitsgeschichte entstehen. Aber auch die Aufgabe, eine alterslose Gesellschaft neu zu denken.

 

Der Wunsch nach Unsterblichkeit ist so alt wie die Menschheit selbst. Könige, Alchemisten aber auch Filmbösewichte haben sich auf die Suche nach dem Gral des unendlichen Lebens gemacht – meist mit wenig Erfolg.

Dem Tod können bis wir bis heute nicht entrinnen. Doch die durchschnittliche Lebenserwartung steigt kontinuierlich an. Während ein Mensch im Europa des 17. Jahrhunderts gerade einmal 35 Jahre alt wurde, so sind es heute über 80 Jahre. Zu verdanken haben wir dies zu einem grossen Teil dem Fortschritt der Medizin. Arzneimittel wie Antibiotika haben dazu beigetragen, die Kindersterblichkeit massiv zu reduzieren. Doch nicht nur. Auch die bessere Hygiene sowie hochwertige Ernährung als Folge des gestiegenen Wohlstands haben einen wesentlichen Beitrag geleistet.

 Auch weiterhin versprechen wir uns von der Medizin Höchstleistungen, wenn es darum geht, die Lebensdauer zu erhöhen. Vielleicht zu Unrecht. Das ambitionierte Ziel der biomedizinischen Forschung, komplexe Krankheitsbilder wie Krebs ganz zu eliminieren, wurde bisher nicht annähernd erreicht.  Studien des Tumorregisters München, das Krankheitsverläufe des gesamten Bundeslandes Bayern analysiert, zeigen, dass sich die durchschnittliche Überlebenswahrscheinlichkeit nach einer Chemotherapie bei Prostata oder Brustkrebs über die letzten 30 Jahre kaum verbessert hat.1 Dies, obschon bereits über 200 Milliarden US Dollar an Forschungsgeldern investiert wurden. Setzt man auf Früherkennung und die auf chirurgische Entfernung des Krebsgewebes, zeigt sich ein positiveres Bild mit besseren Heilungsaussichten. Fakt ist aber: Wir haben die Biologie trotz Entschlüsselung unserer DNA noch nicht verstanden.

 

L’HOMME MACHINE

Seit Beginn der Jahrtausendwende gibt es neue Akteure auf dem Spielfeld des langen Lebens – inspiriert vom DotCom-Boom der späten 90er Jahre, der mit der «New Economy» neue Grundregeln für die Wirtschaft und ein neues Paradigma einer IT-getriebenen Medizin versprach. Zu ihnen gehören technikverliebte Transhumanisten wie der britische Softwareingenieur Aubrey de Grey, der davon ausgeht, dass wir alle bald eine Lebenszeit von 120 Jahren oder mehr erreichen werden. De Grey geht davon aus, dass sich die Geschwindigkeit des medizinischen Fortschritts dem der Informationstechnologie anpassen und entsprechend durch exponentielles Wachstum getrieben sein wird. Gleichzeitig vergleicht er den menschlichen Körper – inspiriert durch das aufklärerische Bild eines biomedizinischen Mechanismus – mit einer Maschine, die unendlich laufen kann, wenn die defekten Teile repariert oder ersetzt werden und eine regelmässige Wartung erfolgt. Der menschliche Körper ist demnach nicht viel anders als ein VW Käfer, den man brav zum Service in die Garage bringt und der in der Folge eine sehr hohe Betriebsdauer erreicht.

Die Abnutzungserscheinungen einer Maschine aus Metall und Kunststoff sind weitgehend bekannt. Doch was ist mit unserem Wissen über die Alterung des menschlichen Körpers? Eine Hauptrolle beim biologischen Alterungsprozess, so de Grey und seine Gefolgen, sollen die sogenannten Telomere spielen. Sie sind eine Art Schutzkappe am Ende der Chromosomen. Bei jeder Teilung werden sie ein Stück kürzer und verlieren, ähnlich wie die Plastikkappen am Ende unserer Schnürsenkel, ihre schützende Funktion. Allmählich fallen die Telomere komplett ab und die Enden der Chromosomen beginnen, untereinander zu verkleben – die Zelle wird funktionsunfähig. Geht die Theorie de Greys auf, wäre dies einer der Ansätze mit denen der Alterungsprozess sich stoppen liesse und Zellen sich unendlich erneuern könnten. Trifft seine Vision zu, würden wir nicht nur immer länger älter werden, sondern könnten den Alterungsprozess ganz stoppen. Wir würden unser Leben demnach beliebig lange als vitale 25- oder 35-Jährige verbringen, jedoch mit der Lebenserfahrung eines Greisen.

 

ANTI-AGING-ALGORITHMEN

Von Fachkreisen wird die Seriosität dieser Theorien bezweifelt. Es ist bis heute unklar, ob de Grey ein Genie oder ein Wahnsinniger ist. Und wie so oft bei Fällen, in denen zunächst grenzenlose Hoffnungen geschürt wurden, wurde es in den letzten Jahren ruhiger um die gerontologischen Fortschrittsoptimisten der Nullerjahre. Bis im September 2013, als der Internetgigant Google mit der Mitteilung für Furore sorgte, dass er sich mit der Gründung der Tochterfirma «Calico» auf den Weg machen werde, den ultimativen Menschheitstraum zu erfüllen: die Unsterblichkeit. Dabei ist Google nicht allein. Eine Reihe weiterer Tech-Milliardäre aus dem Silicon Valley haben sich ähnliche Ziele gesetzt: Der Hedge Fund Manager Joon Yun hat den Palo-Alto-Longevity-Preis von einer Million US Dollar ins Leben gerufen, um den «code of life» zu hacken und eine Lebensdauer von 120 Jahren zu ermöglichen. Der Antrieb dahinter liegt in einer einfachen Statistik. Diese geht davon aus, dass ein 25-Jähriger ein 0,1-prozentiges Risiko hat zu sterben. Würde es uns gelingen, dasselbe niedrige Risiko bis ins hohe Alter beizubehalten, könnten wir theoretisch 1000 Jahre alt werden.

Angesichts dieser hochgesteckten Ziele stellt sich die Frage, was die in der medizinischen Forschung unerfahrenen Tech-Milliardäre tatsächlich dem jahrzehntelangen Erfahrungsschatz der internationalen Pharmaindustrie entgegenzusetzten haben – die ja ebenfalls weder an einem Mangel an Talent noch an knappen finanziellen Mitteln leiden.  Zwei Gründe könnten dafür sprechen, dass das Silicon Valley einen realistischen Beitrag zur Forschung gegen das Altern leisten könnte:

Erstens: Die Medizin wird datenbasiert. Wir haben immer mehr Informationen über den Zusammenhang unserer Gene, Proteine und deren Einfluss auf Krankheiten und lebensbeeinträchtigende Funktionen. Um aus diesen immensen Datenmengen sinnvolle Erkenntnisse abzuleiten, braucht es enorme Rechenkapazitäten und Algorithmen. Beides sind Kompetenzen, die IT-Unternehmen gegenüber Pharmafirmen auszeichnet. Vor allem der Ansatz, in bereichsfremden Datenbanken nach vergleichbaren Mustern zu suchen, scheint vielversprechend. Dadurch könnten die Grenzen zwischen wissenschaftlichen Fachbereichen aufgebrochen werden, durch die die medizinische Forschung bis heute stark geprägt und limitiert wird. Die neuen Cloud-basierten Forschungsnetzwerke würden Pathologen weltweit einen sofortigen Zugriff zu genetischen Informationen liefern und sie bei Diagnosen unterstützen. Ein weiterer Vorteil gegenüber der traditionellen Medizin ist es, dass beim Einsatz von IT zur Förderung der Langlebigkeit nicht nur genetische Daten, sondern auch persönliche Verhaltensweisen und Informationen zum Lebensstil eines Menschen berücksichtigt werden. IBM testet gegenwärtig mit seinem intelligenten Hochleistungsrechner Watson Anwendungen, bei denen Algorithmen aus einer enormen Zahl möglicher Krebstherapien diejenigen identifizieren, die am besten zu den individuellen Charakteristiken eines Patienten passen. Und dazu dürften – ausser der NSA – wohl keine Institutionen der Welt mehr Daten verfügen als die grossen Internetkonzerne.

Zweitens: Die neue Anti-Aging-Forschung des Silicon Valley ist durch den starken Glauben der kalifornischen Milliardäre geprägt, dass jedes Problem der Welt lösbar ist, wenn man sich mit genügend Mut und Geld darum kümmert: sei es, die gesamte Welt zu kartografieren, sie mit selbstfahrenden oder elektrischen Autos auszustatten – oder dem Tod seine Grenzen zu setzen. So gesehen ist es bezeichnend, dass Googles «Calico» mit breiter Brust das Ziel verkündet, dem menschlichen Leben 20 oder mehr Jahre hinzuzufügen. Einer der wenigen Hinweise zum genauen Vorgehen stammt aus einem Bericht im Time Magazin und deutet darauf hin, dass im Kern der Arbeit von «Calico» ein besseres Verständnis altersbedingter Krankheiten liegt, das durch Datenverarbeitung und Algorithmen gewonnen werden soll. Bei all der angebrachten Skepsis könnte gerade dieser Wille, neu zu denken ohne auf die Misserfolge der letzten Jahrzehnte zu blicken, einen entscheidenden Fortschritt bringen.

 

WACHSTUMSMARKT NANA-TECHNOLOGIE

Ob erfolgsbringend oder nicht: Tatsache ist, dass rund um die Verlängerung des Lebens und die Erhöhung unserer Lebensqualität im Alter ein enormer Markt entsteht – im Buzzword-Jargon die sogenannte «Silver Economy». Dabei geht es um wesentlich mehr als neue Arzneimittel und medizinische Therapien. Geschätzt wird, dass die «Ökonomie der Langlebigkeit» in den USA bis 2032 bis zur Hälfte der Wirtschaftsleistung ausmachen könnte. Gleiches gilt für Europa und die alternden Nationen Asiens und Südamerikas. So dürften für ältere Menschen neben Medikamenten, Implantaten und gesundheitsfördernden Lebensmitteln auch gesundheitsüberwachende Apps den Markt erobern, Teppiche, die Stürze erkennen und der Ambulanz melden, oder Schmuck, der an die tägliche Einnahme der Tablette erinnert – die sogenannte «Nana-Technologie». Im Zentrum steht dabei nicht nur der eigentliche medizinische Mehrwert, sondern der direkte Nutzen im Alltag der Menschen. Dazu werden auch Technologien gehören, die es uns ermöglichen, die Handicaps des Älterwerdens zu überwinden. Elektrische Fahrräder, die es Senioren erlauben, lange Touren zu bestreiten, wären nur ein kleiner Teil dessen, was denkbar ist.

Dieser Art Marktprognose liegt allerdings ein Denkmodell zugrunde, das sich – zumindest wenn Aubrey de Grey recht behält – auch als falsch herausstellen könnte. Denn wenn wir den Alterungsprozess tatsächlich aufhalten könnten, hätten wir keine Altersgesellschaft, sondern eine Gesellschaft ohne Alter. Niemand bräuchte dann noch Pflegeheime, Rollstühle oder Medikamente. Das Volumen der Konsumgütermärkte und der Freizeitindustrie würde sich vervielfachen, die traditionelle Gesundheitsindustrie wahrscheinlich untergehen.  

 

DIE SECHS-GENERTATIONEN-GEMEINSCHAFT

Jenseits der Aufbruchsstimmung zum neuen extrem langen Leben erstaunt allerdings, dass zwar viel über neue Altersgadgets und Dienstleistungen für die «Silver Surfer» gesprochen wird, kaum aber über die gesellschaftlichen Herausforderungen einer Welt, in der wir – bleiben wir bescheiden – bei guter Gesundheit 120 Jahre alt werden. Wie würde die Gesellschaft, wie würde unser soziales Leben aussehen?

Zum einen hätten wir viel mehr Zeit. Wir könnten künftige Generationen dabei beobachten, wie sie älter werden, neue Sprachen sprechen oder Musikinstrumente spielen lernen oder die Länder der Welt bereisen. Wir hätten Zeit für all das, wofür wir im heutigen Alltag kaum Zeit finden. Auch für die Gesellschaft würde dies Vorteile bringen, weil wir mehr Lebensjahre produktiv nutzen könnten. Zum andern würde eine so lange Lebensdauer die Gesellschaft auf fast allen Ebenen radikal verändern. Vorstellungen von Familien, Ehen und die Solidarität zwischen Alt und Jung, beispielsweise, müssten neu definiert werden. Während unglückliche 60-jährige Paare in der heutigen Welt tendenziell eher den Konsens im letzten Lebensabschnitt suchen, würde man sich mit einer höheren Lebenserwartung wohl häufiger trennen. Kürzere Ehen könnten die Regel werden und jede davon könnte Kinder hervorbringen. Wir hätten also deutlich mehr Halbgeschwister, die bis zu 30 oder mehr Jahren Altersunterschied aufweisen. Es wäre realistisch, dass bis zu sechs Generationen gleichzeitig leben. Darüber hinaus wäre es unvermeidbar, dass wir einen Grossteil der neugewonnenen Zeit nicht nur für Hobbys sondern mit Arbeit verbringen würden, was die Produktivität, basierend auf der langen Erfahrung von Mitarbeitern, erhöhen könnte. Und wir hätten die Gelegenheit zu mehreren Karrieren in unterschiedlichen Branchen oder Tätigkeitsfeldern. Dabei dürfte sich allerdings auch die Konkurrenz erhöhen und es jüngeren Arbeitnehmern erschweren, jemals eine Stelle zu bekommen. Unklar ist auch, was die Folge wäre, wenn Menschen bis zu 100 Jahre in ihren Stellen bleiben. Unternehmen, Universitäten oder die Politik könnten über sehr lange Zeiten von einzelnen Führungspersonen dominiert sein. Gleichzeitig dürfte sich die Innovationsfähigkeit von Organisationen ohne den Einfluss von neuen, jungen Mitarbeitern reduzieren.

Neben den sozialen Umwälzungen würde sich auch die Herausforderung der Ressourcenknappheit weiter zuspitzen. Die Antwort der Transhumanisten sieht vor, dass auch hier Technologie die Lösung bringt: Alternative Energiequellen würden dafür sorgen, dass die Welt genügend Energie und Trinkwasser hat. Falls dieses Best- case-Szenario aber nicht eintreffen würde, stünden wir vor noch massiveren Konflikten über Grundgüter, Boden und Raum. Dies könnte im schlimmsten Fall eine restriktive Geburtenkontrolle nach sich ziehen – eine Vorstellung, die mit der Vision von mehr Freiheit und Gestaltungsmöglichkeiten, die eigentlich am Ursprung des Wunsches nach einem sehr langen Leben steht, kaum vereinbar ist.

 

DIE ALTERS(LOSE) GESELLSCHAFT GESTALTEN

 So gilt es, das Ziel, unsere Lebenserwartung weiter zu erhöhen, nicht nur aus medizinischer Sicht und dem unmittelbaren Gewinn von ein paar Lebensjahren zu beurteilen, sondern auch mögliche Chancen und Risiken für Gesellschaft und Individuen miteinzubeziehen. Doch so einleuchtend die negative Folgen scheinen: Es ist naheliegend, dass sich der Fortschritt der Medizin, sei es durch Pharmakologie oder Algorithmen, nicht aufhalten lässt. Auch liessen sich lebensverlängernde Massnahmen aus ethischer Sicht kaum verbieten.

Welches sind also die Handlungsfelder für Politik, Unternehmen und uns alle? Es gilt zunächst, die langlebige Gesellschaft weiter oder gar neu zu denken, sich klar zu werden, was aus Sicht von Individuum und Gesellschaft – die nächsten Generationen eingeschlossen –  möglich und wünschbar ist. Es gilt zu klären, welche Chancen wir nutzen und welche Risiken wir vermeiden müssen, welche neuen Gestaltungsmöglichkeiten sich für unser Leben ergeben und vor allem, welche tatsächlich den menschlichen Bedürfnissen entsprechen. Diese Antworten werden uns keine Algorithmen liefern.

Darauf aufbauend, wächst die Bedeutung, Lösungen anzudenken, mit deren Hilfe wir uns auf die künftigen Lebensumstände vorbereiten können. Es gilt zu klären, welche Wertemuster oder gesetzlichen Rahmenbedingung erforderlich sind, um Wünschenswertes zu fördern und Nichtwünschenswertes abzuwenden. Aus dieser Position lassen sich auch die nächsten Wachstumsmärkte erahnen, die aller Voraussicht nach nicht primär auf Lebensverlängerung, sondern auf Lebensqualität ausgerichtet sein werden.

 

Stephan Sigrist ist Gründer und Leiter von W.I.R.E. und beschäftigt sich seit vielen Jahren mit Entwicklungen der Life Sciences sowie mit langfristigen Trends in Wirtschaft und Gesellschaft. Zudem ist er Autor zahlreicher Bücher, berät Unternehmen und politische Institutionen in strategischen Belangen und ist regelmässiger Referent auf internationalen Tagungen.

D. Hölzel, Tumorregister München, Deutsches Ärzteblatt

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