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Plädoyer für eine neue Fehlerkultur. Von Stephan Sigrist

Alles ist heute Echtzeit. Nicht nur an den Finanzmärkten werden Entscheide in Sekundenschnelle gefällt, sondern auch bei politischen Vereinbarungen oder der Partnerwahl. Jeder wird darauf getrimmt, ohne Umwege ans Ziel zu gelangen. Im Zuge dieser Entwicklung wird etwas Wesentliches vergessen: die Imperfektion. Wer im globalen Markt langfristig mithalten will, braucht den Mut für Fehler und die Bereitschaft, aus ihnen zu lernen. Deshalb: Scheitern Sie mal wieder! Nicht im Grossen, aber im Kleinen. Die Natur macht es seit der Entstehung des ersten Lebens vor 4 Milliarden Jahren vor.

Von Stephan Sigrist

 

Kinder im Vorschulalter wissen es, Frisöre auch, Manager und Politiker ebenso: «You never get a second chance to make a first impression». Im Zeitalter des Internets und der Medien wird die Perfektionierung des Auftritts zum zentralen Wettbewerbsvorteil. Wer gut aussieht, schliesst mehr Geschäfte ab und findet privat die attraktiveren Partner. Über Erfolg oder Niederlage wird in Echtzeit entschieden. Die Fähigkeit, treffsicher und in Sekundenschnelle zu handeln und sein Gegenüber zu überzeugen, gilt als Grundvoraussetzung in der globalen Welt. Dieser Zwang zum schnellen Erfolg stellt aber Unternehmen, Politik und Individuen vor ein Dilemma: Wer langfristig denkt und handelt, riskiert, den kurzfristigen Qualitätsanforderungen nicht zu genügen. Politiker, die über Jahresfristen hinaus planen, haben Schwierigkeiten, bei den nächsten Wahlen einen Leistungsausweis vorzulegen. Unternehmen, die aufgrund einer langfristigen Wachstumsstrategie kurzfristig schlechte Quartalsergebnisse liefern, werden durch Investoren und Finanzpresse abgestraft.

VON DER EVOLUTION ZUR DEVOLUTION

Der Erfolgsdruck führt entsprechend bei Individuen, Unternehmen und Staaten zu kurzfristigem und einseitigem Verhalten: Menschen versuchen, sich mit technologischen Hilfsmitteln zu optimieren. Der Körper wird mit Viagra und Botox «getuned»; Facebook-Profile werden mit aufgebesserten Fotos oder Lebensläufen präsentiert. Im Umfeld von Wirtschaft und Politik beschwören Entscheidungsträger den Erfolg und Innovationsgrad der neusten Produkte und Programme ihrer Institutionen, ungeachtet des echten Mehrwerts. Der Erfolgszwang führt zu einem falsch verstandenen Innovationsbegriff, der «neu» zwingend mit «besser» verknüpft. Das Resultat solcher Denkweisen ist nicht selten das Gegenteil von Qualität. In gewissen Fällen kann der Zwang zum Neuen gar in Rückschritt statt Fortschritt münden: Lebensmittelhersteller überschwemmen den Markt mit immer neuen Produktvarianten. Allerdings gewinnt kaum je eines dieser Lebensmittel die Herzen der Konsumenten. Die Folgen sind Vertrauensverlust und Überforderung. In der Automobilbranche ist Toyota Opfer des eigenen Qualitätsmythos geworden und hat vor lauter Optimierungsdruck das eigentliche Ziel, die Sicherheit der Autos, aus dem Blickfeld verloren. Die Folge: knapp neun Millionen Rückrufe weltweit und Schadenersatzklagen in Millionenhöhe.

DER WERT DES FEHLERHAFTEN

Im Prozess der laufenden Optimierung und Perfektionierung von Individuen, Unternehmen und Gesellschaft ist eine Grundlage, die uns als Menschen auszeichnet und auch die Basis für Erfolg und Innovationen legt, in Vergessenheit geraten: die Imperfektion.

Ein Beispiel für die Notwendigkeit von Prozessen, die auf Fehlern aufbauen, liefert die Evolution. Die natürliche Selektion basiert auf dem Prinzip, dass Organismen im Lauf der Zeit immer wieder neue Eigenschaften entwickeln. Diese setzen sich durch, wenn sie dem Überleben der Spezies dienen, gehen aber unter, wenn sie dies nicht tun. Bei Bakterien führt diese Strategie innerhalb von kurzer Zeit zur Resistenzfähigkeit gegen Antibiotika. Wir Menschen verdanken dem Prinzip geschickte Finger und die Fähigkeit, zu denken. Dieses Trial-and-Error-Prinzip gründet darin, dass Erbgut bei der Fortpflanzung fehlerhaft kopiert wird. Einzelne DNA-Bestandteile werden bei der Zellteilung nicht identisch, sondern leicht verändert weitergegeben. Diese Veränderungen tragen dazu bei, dass neue Eigenschaften entstehen, ausgetestet werden, und, im positiven Fall, sich zu einem Vorteil gegenüber anderen Zellen entwickeln.

Im Unterschied zu Systemen und Organisationen, die Fehler einkalkulieren, ernten solche, die von einer perfekten, linearen Entwicklung ausgehen, langfristig oft die grösseren Misserfolge. Zum einen führt der Glaube an die Fehlerlosigkeit von Systemen zur fahrlässigen Unterschätzung von Risiken. Zum andern hemmt die soziale Ächtung von kreativen Köpfen, deren Ideen nicht erfolgreich sind, die Bereitschaft, Neues zu versuchen. Gescheiterte Unternehmer werden verurteilt, Wissenschaftler, deren Ergebnisse nicht der gängigen Lehrmeinung entsprechen, finden keine Anstellung. Musiker, die nicht den Allgemeingeschmack bedienen, werden durch Radiostationen boykottiert. Im Extremfall führt dies zu einer Nivellierung der Denkmodelle in Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur.

WIDER DIE PERFEKTION

Wer langfristig wettbewerbsfähig bleiben will, muss auf Prozesse setzen, nicht nur Lösungen, auf Misserfolg, nicht nur Erfolg. Länder und Institutionen, die nachhaltig Innovation fördern wollen, brauchen deshalb eine neue Fehlerkultur, die Imperfektion und Fehler als unabdingbaren Teil des Weges zum Fortschritt wertschätzen. Dabei geht es nicht darum, Staaten, Unternehmen oder Individuen zu generellem Fehlverhalten zu animieren, sondern dieses im Kleinen zu tolerieren, um damit Grossgefahren zu verhindern. In Branchen mit hohen Sicherheitsrisiken und hierarchischen Strukturen hat es sich gezeigt, dass die Anonymisierung von Fehlermeldungen zu einer signifikanten Steigerung der Qualität beitragen kann. Führende Fluggesellschaften richteten flache Hierarchien im Cockpit und anonyme Meldesysteme für Beinahepannen ein. Dies ermöglicht es Mitarbeitern, Fehler einzugestehen, ohne dass sie dafür bestraft werden. Die Organisation kann so massiv zur Prävention von Abstürzen beitragen. Solche Fehlermeldesysteme könnten auch in andere Branchen, von der Medizin, bis zu Banken, Ölförderungsgesellschaften oder die Politik übertragen werden. In der Medikamentenentwicklung könnte die konsequente Offenlegung negativer Ergebnisse von klinischen Studien, die heute noch vielfach unter Verschluss gehalten werden, die Qualität für Patienten wesentlich verbessern. Informationen über Nebenwirkungen wären so zugänglich, und auch die Unternehmen selbst würden profitieren, da Studien mit vergleichbaren Substanzen nicht mehrfach durchgeführt werden müssten.

Generell lassen sich drei Voraussetzungen für eine entsprechende Fehlerkultur festhalten.

Erstens: Eine ganzheitliche Sicht auf die Welt, die anerkennt, dass diese komplexer ist, als dass sie mit linearen Denkmustern erklärt werden könnte. Obschon es wichtig ist, Modelle für wirtschaftliche oder biologische Phänomene zu entwickeln, sollten wir uns bewusst sein, dass viele Forschungsbereiche hoch komplex und nur bedingt prognostizierbar sind.

Zweitens: Transparenz. Das Lernen aus Fehlern erfordert gesetzliche Richtlinien sowie Anreizsysteme, die Individuen, Unternehmen und die Politik dazu bewegen, die Resultate ihrer Arbeit offen zu legen. Nur solche «Open Access»-Konzepte erlauben es, zu lernen und bestehende Modelle auf Basis von Erfolgen und Misserfolgen anzupassen.

Und drittens: der Mut für Neues. Um möglichst viele Zeitgenossen zum Neudenken anzuregen, braucht es vor allem Vorbilder, die entsprechende Werte in Unternehmen, der Politik und in der Familie leben. Also kaufen Sie beim nächsten Preiseinsturz Pharmaaktien und loben Sie Ihre Tochter, selbst wenn sie im Orientierungslauf die unerlaubte Abkürzung genommen hat. Auch wenn die Welt dadurch nicht zwingend innovativer wird, wird es doch angenehmer, in ihr zu leben.

 

 

Stephan Sigrist ist Leiter des Think Tank W.I.R.E. und beschäftigt sich mit Entwicklungen in den Life Sciences sowie mit generellen Makro-Trends in Wirtschaft und Gesellschaft. Er hat am Collegium Helveticum promoviert und arbeitete als Senior Researcher am Gottlieb Duttweiler Institut. Nach seinem Biochemie-Studium an der ETH Zürich war Stephan Sigrist in der medizinischen Forschung von Hoffman–La Roche und als Berater bei Roland Berger tätig. Er ist Autor verschiedener Publikationen sowie Referent an internationalen Tagungen. 

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