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Einschränkungen machen uns frei. Interview mit Scroobius Pip

Gespräch mit Scroobius Pip
Von Simone Achermann

David Meads alias Scroobius Pip ist ein britischer Musiker und Wortkünstler. Im Interview spricht er darüber, warum er die hippen Londoner für unfrei hält, seine kindliche Sprachbehinderung als Bereicherung empfindet und positive Jugendbewegungen die Gesellschaft verbessern können. Sein Pseudonym – eine Bezugnahme auf das Gedicht «The Scroobious Pip» von Edward Lear – ist die Geschichte eines Wesens auf der Suche nach sich selbst, bis es merkt, dass es einfach der Scroobious Pip ist und in keine Kategorie passt. Das gilt auch für den Musiker.

 

In einigen Ihrer Lieder wie «Thou Shalt Always Kill» sagen Sie den Leuten, welches Verhalten richtig oder falsch ist. Kann die Musik die Gesellschaft zum Besseren verändern?

 Sie gibt uns die Möglichkeit, uns anders zu verhalten. Denken Sie zum Beispiel an die zunehmenden Messerstechereien in den ärmlichen Stadtvierteln von London. Zu Zeiten meines Vaters hatte jeder ein Messer, weil er Pfadfinder war, aber man benutzte es damals nicht. Das Problem liegt also nicht bei den Messern, sondern daran, dass die Kids keine anderen Möglichkeiten sehen, als Gangster zu spielen. Wir brauchen positive Jugendbewegungen: keine gewalttätigen Songs, sondern Lieder, die optimistisch sind oder sich kritisch-kreativ mit realen Problemen auseinandersetzen. Aber die Musik muss den Kids nicht ausschliesslich gute Vorbilder liefern. Es ist schön, dass sie auch einfach da ist, um im Alltag eine Rückzugsmöglichkeit zu bieten. Wenn an der Musik alles nur ernst wäre, würde das Vergnügen zu kurz kommen. Ernste Musik funktioniert nur durch den Kontrast zu reiner Unterhaltungsmusik.

 

Sie kritisieren die Leute besonders wegen ihres Hochmuts in Geschmacksfragen: Angehörige der Oberschicht beanspruchen die Klassik, die Kids im Plattenladen den Punk für sich. Lässt uns die Gesellschaft jemals wirklich über unsere Herkunft hinauswachsen?

Ja, aber es ist schwer. Im Song «Snob» geht es auch um mein eigenes Vorurteil gegenüber Leuten aus wohlhabenden Kreisen. Meine Eltern haben hart gearbeitet, und ich muss immer mit meinen Vorbehalten gegenüber den Reichen kämpfen. Trotzdem glaube ich, dass wir unsere Vorurteile genauso wie unsere Herkunft überwinden können. Man muss einfach das machen, was man wirklich will und darf sich nicht darum kümmern, was die anderen denken. Diese Lektion habe ich gelernt, seit ich in der Öffentlichkeit stehe.

 

Sind all die hippen Kunststudenten in London Zeichen einer Gesellschaft, in der jeder macht, was er will?

Nein, das ist nur ein weiterer Hype. Die Leute lassen sich heute zu stark von Trends leiten. Sie entscheiden nicht selbst, was sie gut finden und was nicht und besuchen Konzerte in Shoreditch nur, weil es cool ist, an einer Veranstaltung in einer rauen Gegend teilzunehmen. Sie verstehen nicht, dass das nicht Disneyland ist – mit dem Ergebnis, dass sie überfallen und verprügelt werden. Es ist verrückt, wie junge Leute aus der Individualität ein Genre machen. Ein Individuum zu sein bedeutet heute oft die Zugehörigkeit zur Bewegung der Individuen, so wie es bei Gothoder Emo-Kids der Fall ist.

 

Macht uns der Versuch, möglichst individuell zu sein, unfrei?

Ja, wenn Individualität zum Zwang wird. Wir haben heute mehr Optionen, um unser Leben zu gestalten, aber wir sind doch immer notwendigerweise ein Teil unseres Umfelds und unserer täglichen Erfahrungen. Wir können also nicht wirklich etwas ganz Individuelles oder vollkommen Neues machen. Dies gilt auch für die Musik. Ich mische viele Musikstile und hatte nie das Ziel, ein neues Genre zu definieren. Denn auch diese sind immer voneinander beeinflusst und Kritiker liegen falsch in ihrem Versuch, Musik zu kategorisieren. Jede Musik soll für sich selbst beurteilt werden.

 

Ist die Vermeidung von Kategorisierungen das Rezept zur Freiheit der Kunst?

Ich bin nicht sicher, ob die Freiheit der Kunst möglich ist. Mir gefällt die Vorstellung, dass Kunst einfach vorhanden und frei ist in dem Sinn, dass sie jeder sehen oder hören kann und dass sie nicht in eine Galerie oder ein Museum passen muss. Andererseits müssen Künstler mit dem, was sie tun, Geld verdienen. Also kann die Kunst selbst nicht vollkommen frei von Beschränkungen sein – auch wenn wir sie nicht kategorisieren. Die Freiheit entsteht vielleicht aus der Einstellung des Künstlers: die Leidenschaft für die Musik oder für das, was man schafft. Die Tatsache, dass ich von dem, was mir gefällt, leben kann, gibt mir Freiheit – zumindest im Vergleich zu einem Schreibtischjob von 9 bis 17 Uhr.

 

Sind Sie deswegen Musiker geworden?

Ich habe nicht wirklich entschieden, Musiker zu werden. Musik war schon immer Teil meines Lebens. Ich spielte in kleinen Punkbands und arbeitete jahrelang in Plattengeschäften. Ich habe mich auch nicht wegen der Musik, sondern wegen des gesprochenen Worts für dieses Leben entschieden – ich wollte Möglichkeiten finden, um mich sprachlich auszudrücken.

 

Was bedeutet Freiheit für Sie persönlich?

Freiheit bedeutet für mich die Anerkennung von und der kreative Umgang mit Restriktionen. Zum einen können uns Einschränkungen zu kreativeren und damit zu freieren Menschen machen. Ich habe als Kind gestottert. Diese Sprachbehinderung verhinderte eine gewisse natürliche, als gegeben angesehene Ausdrucks- und Redefreiheit. So musste ich mir immer vorher überlegen, was ich sagen würde, um nicht zu stottern und andere Wörter verwenden, als mir normalerweise in den Sinn gekommen wären. Aber gerade diese Begrenzung förderte mein Sprachinteresse und machte mich letztlich zu einem Sprachkünstler. Zum anderen bedeutet persönliche Freiheit nicht, dass jeder alles kann. Die Gesellschaft besteht auch aus Menschen, die über ein breiteres Wissen als ich verfügen. Wenn ich in meiner Musik einen bestimmen Lebensstil von Personen kritisieren darf, die meiner Meinung nach weniger als ich wissen, dann ist es auch in Ordnung, dass ich mich von besser gebildeten Menschen in meinem Land leiten lasse. Einige Leute wie mein Bruder gehen nicht wählen, weil sie behaupten, dass die Wahlen in Grossbritannien einen irrigen, konstruierten Freiheitsgedanken bedienen. Und er hat teilweise Recht. Wir machen nichts anderes, als Leute zu wählen, die für uns die Entscheidungen treffen – wir wählen also nur das Recht zu bestimmen, wer im politischen Entscheidungssystem drin ist und wer nicht. Andererseits ist das vielleicht gar kein schlechtes System, weil wir schliesslich nicht alle in die Politik gehen können. Manchmal müssen wir bescheiden sein und akzeptieren, dass es andere besser wissen.

 

 

David Meads alias Scroobius Pip ist ein britischer Wortkünstler und Musiker. Der ehemalige Plattenverkäufer schreibt seit 2005 Gedichte und arbeitet seit 2006 in einem Soloduo mit dem Laptopmusiker dan le sac als «dan le sac vs. Scroobius Pip». Ihre erste Single «Thou Shalt Always Kill» (2008) wurde beim Sunday Best Record Label veröffentlicht. Das Debütalbum «Angles» (2008) erreichte Platz 31 in den UK-Album-Charts. Das neue Album «The Logic of Chance» erschien am 15. März 2010 bei Sunday Best. Ihr Musikstil umfasst Hip-Hop, Electronica und Pop; musikalische Einflüsse sind Sage Francis, Chilly Gonzales, Joy Division, Kraftwerk und Mogwai. Wenn er nicht auf Tour ist, arbeitet Pip in seinem Zuhause in einer Grafschaft nordöstlich von London. 

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