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In einer unsicheren Welt: zehn Gewissheiten. Von Katja Gentinetta

Von Katja Gentinetta

 

Wir leben in der besten aller Welten. Dieser Überzeugung war Gottfried Wilhelm Leibniz, Philosoph und Universalgelehrter im 18. Jahrhundert. Er haderte – es war die damalige Hauptfrage der Philosophie – mit dem freien Willen. Den freien Willen hätten wir, um uns auch gegen das Böse entscheiden zu können. In der besten aller Welten lebten wir dennoch, so Leibniz, weil Gott sein Bestes gegeben habe. In einer Welt der Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung müssen wir uns fragen: In welcher Welt leben wir? Und geben wir unser Bestes? Kaum. Dennoch gibt es auch für uns Gewissheiten. Ich nenne zehn davon.

 

 01 IM GROSSEN UND GANZEN GEHT ES UNS FORTLAUFEND BESSER.

Die kulturelle Entwicklung des Menschen hat über Jahrtausende zu immer besseren Lebensbedingungen geführt. Warum? Für Heinrich August Winkler, den deutschen Historiker, ist es der Grundsatz der Machtteilung – zwischen Kirche und Staat, im Staat selbst und zwischen gesellschaftlichen Bereichen – die für den Fortschritt unserer Zivilisation verantwortlich ist. Matt Ridley, ein Zoologe, sieht den Schlüssel in der Arbeitsteilung und dem Austausch von Ideen. Für Ian Morris, den britischen Historiker und Archäologen, ist es die Geographie, die sich der Mensch zunutze gemacht hat. Für den Evolutionspsychologen Steven Pinker schliesslich sind es der moderne Staat und die Marktwirtschaft, die die Gewalt zurückgedr.ngt haben. Seine Schlussfolgerung: Wir leben heute in der friedlichsten aller Welten.

 

02 DIE GROSSE KATASTROPHE DROHT IMMER, ABER SIE WIRD AUSBLEIBEN.

Im Unterschied zu früheren Zeiten haben wir immer engere Netze: Handels- und soziale Auffangnetze. Offener Handel, der uns weltweit vernetzt, führt zu mehr Freiheit, Wohlstand und Sicherheit. Die meisten Länder haben in den letzten Krisenjahren davon abgesehen, den Welthandel durch Protektionismus allzu stark einzuschränken. Es hätte allen geschadet, und am meisten ihnen selbst. Früher führten wir Kriege um Territorien, heute um Talente. Die «Waffe» waren einst Speere und Kanonen; heute sind es Lohn und Lebensqualität – und soziale Sicherheit. Diese Netze senken den Anreiz, eine im Grossen und Ganzen funktionierende Ordnung aufs Spiel zu setzen.

 

03 DER KAPITALISMUS IST NICHT AM ENDE; ER IST EIN LERNENDES SYSTEM.

Der Kapitalismus ist nicht eine von uns, vom Menschen oder gar vom Staat unabhängige Welt. Der Markt setzt sich aus Abertausenden von Einzelentscheiden zusammen. Steuerung von oben funktioniert deshalb nicht; sie geschieht durch uns alle: als Bürgerinnen und Konsumenten. Die Politik muss den Rahmen abstecken, Grenzen aufzeigen und durchsetzen. Ein Prozess, der jetzt – im Nachgang der Krise – einmal mehr in vollem Gange ist. Ob wir die richtigen Regeln setzen, wird sich weisen. Lernen können wir nur aus der Vergangenheit. Selbst wenn Fehler passieren und wir wieder vor neuen Problemen stehen: Wir werden sie wiederum lösen.

 

04 DIE GRUNDSÄTZE DER MARKTWIRTSCHAFT STIMMEN IMMER NOCH.

Für eine Marktwirtschaft braucht es sieben Grundprinzipien, formuliert von der Freiburger Schule in den 1930er- Jahren: ein funktionsfähiges Preissystem, den Vorrang der Währungsstabilität, offene Märkte, die ordnungspolitische Trias von Privateigentum, Vertragsfreiheit und Haftung sowie eine gewisse Konstanz in der Wirtschaftspolitik. Alle diese Prinzipien wurden eingehalten – bis auf jenes der Haftung, und zwar auf allen Ebenen: der Banken, der Individuen, der Staaten. Das Prinzip der Haftung zu vernachlässigen, heisst nichts anderes, als auf Pump zu leben. Dies zu korrigieren, ist im Wesentlichen Ziel der gegenwärtigen Regulierung. Wird das Prinzip der Haftung wieder beherzigt, ist vieles wieder im Lot.

 

05 DER NIEDERGANG DES WESTENS STEHT NICHT BEVOR.

Selbst wenn wir an der Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaften zweifeln: Auch wir werden fähig sein, unser Haus wieder in Ordnung zu bringen. Reformen sind nämlich dann möglich, wenn sie notwendig sind. Politischer Wille war oft nur dann vorhanden, wenn eine wirkliche Krise ins Haus stand: ein riesiger Schuldenberg, eine baldige Zahlungsunfähigkeit. Dann aber wurde gehandelt – das zeigen alle sozialpolitischen Reformen der vergangenen 30 Jahre. Gute Zeiten müssen genutzt werden, um zu investieren – auch in Ideen. Schlechte Zeiten und Krisen dann, um diese umzusetzen. Wir dürfen also gespannt sein.

 

06 KULTURELLEN ARTENSCHUTZ GIBT ES NICHT.

Die Angst, dass unsere Kultur zugunsten einer anderen untergeht, ist nicht berechtigt. Nehmen wir das Beispiel China. Dessen gesellschaftliche Normen und politische Ziele werden sich an der Realität messen lassen müssen. Denn letztlich wird dort eines der grössten gesellschaftlichen Experimente aller Zeiten vollzogen: der Versuch, wirtschaftliche Freiheit mit politischer Bevormundung zu kombinieren. Dieses Experiment dürfte, früher oder später, scheitern.

 

07 DER SCHLÜSSEL LIEGT IN ANPASSUNG UND WIDERSTAND.

Jede Gesellschaft ist permanent herausgefordert, von innen und aussen. Sie ist dieser Herausforderung gewachsen, weil sie sich einerseits anpasst, also das integriert, was wertvoll scheint, und abwehrt, was abzulehnen ist. Dieser Prozess ist heilsam, denn er zwingt uns und auch die andern, die je eigene Position immer wieder zu hinterfragen und damit zu festigen oder loszulassen. Anpassung und Widerstand sind die Elemente der Entwicklung – und diese haben wir bisher gut gemeistert.

 

08 ENTWICKLUNGEN LAUFEN NIE LINEAR. 

Jede Bewegung löst eine Gegenbewegung aus. Zu viel Staat provozierte mehr Markt; zu viel Markt ruft nach mehr Staat. Auch als Individuen reagieren wir: Offensichtliche Verschleuderung von Ressourcen fördert das Umweltbewusstsein; zu grosse Marktmacht stiftet zu fair trade an; hors-sol war ein Auslöser für Bio. Wir selbst geben Gegensteuer, täglich, wenn es uns richtig erscheint.

 

09 DER MENSCH IST UNGERECHT, ABER ER WILL GERECHTIGKEIT.

Der Mensch hat kein intrinsisches Gefühl für Gerechtigkeit. Aber er hat ein sicheres Gefühl für Ungerechtigkeit. Weil wir wollen, dass man uns gegenüber gerecht ist, haben wir Regeln geschaffen und diese im Verlauf unserer Geschichte verfeinert, ausgeweitet und ausdifferenziert. Auf Dauer kommt niemand ungeschoren davon, der sich ungerecht verhält. Weder bei Verfehlungen im persönlichen Umfeld noch in einer Wirtschaftsordnung oder der internationalen Staatengemeinschaft.

 

10 AM ENDE IST AUF NIEMANDEN VERLASS, AUSSER AUF EINEN SELBST.

Wer sich auf die andern verlässt, wird irgendwann alleine dastehen. Das gilt für einen selbst wie für ganze Gesellschaften. Wer meint, er könne sich darauf verlassen, dass irgendjemand anders die eigene Rechnung bezahlt, wird sich geirrt haben – früher oder später. Deshalb ist Eigenverantwortung unabdingbar. Wir können sie nie nur von den anderen verlangen, sondern müssen sie zuerst für uns selbst festlegen. Wir leben nicht in der schlimmsten aller Welten. Wir leben auch nicht in der besten. Wir leben in der Welt, die wir gestalten. Bei Leibniz gestaltete Gott die Welt. Heute sind wir es. Es ist an uns, eine gemeinsame Ordnung zu etablieren. Und dazu hat jede und jeder ihren und seinen Beitrag zu leisten.

 

Katja Gentinetta ist politische Philosophin. Die Autorin und Moderatorin ist Lehrbeauftragte für Public Affairs an der Universität St. Gallen und Gesprächsleiterin der «Sternstunde Philosophie» am Schweizer Fernsehen. Als Stv. Direktorin des Think Tanks Avenir Suisse hat sie mehrere Bücher zu sozialstaatlichen Themen publiziert. Weitere Informationen unter www.katja-gentinetta.ch

 

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