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Abhängigheit schafft Sicherheit. Gespräch mit Philipp Sarasin

Von Simone Achermann

 

Gesellschaften haben keine Körper, Fremdenhass ist keine Immunreaktion und Xenophobie keine Allergie. Im Interview warnt der Historiker Philipp Sarasin vor den einfachen Analogien. Denn gerade sie sind am gefährlichsten.

 

Herr Sarasin, was ist Abwehr?

Das Thema ist zu vielschichtig, als dass ich darauf eine allgemeingültige Antwort hätte. Wenn wir heute aber von Abwehr sprechen, so denken wir intuitiv an die Immunologie. Unser Wissen darüber hat im 20. Jahrhundert die gesellschaftlichen Vorstellungen von Abwehr geprägt.

 

Können Sie das erklären?

Im Kontext der entstehenden Bakteriologie am Ende des 19. Jahrhunderts wurden moderne Abwehrdiskurse ein Stück weit biologisiert und an das Konzept der Immunabwehr angelehnt. Die biologischen Konzepte haben sich allerdings zum Teil tiefgreifend gewandelt. Während Louis Pasteur glaubte, der menschliche Körper sei geschlossen wie eine «zugestöpselte Flasche», in die kein fremdes Bakterium eindringen dürfe, wissen wir heute, dass der Austausch mit dem Aussen zwingend ist für die Existenz jeder Art von Leben. Und die Bakteriologie hat seit den 1920er- Jahren gelernt, dass es sehr viel mehr Fremdeinflüsse als nur das Eindringen eines krankheitserregenden Bakteriums braucht, bis ein organisches System zusammenbricht. Man muss zwar vorsichtig sein mit der Übertragung biologischer Redeweisen und Metaphern auf das Gebiet der Gesellschaft; im 20. Jahrhundert hatte die politische Rede vom «Volkskörper» und von «Fremdkörpern» die allerschrecklichsten Auswirkungen. Aber man kann dennoch sagen, dass das epidemiologische und das immunologische Wissen die zunehmende Öffnung von Grenzen und die wachsende Vernetzung der Welt heute als zumindest ambivalente Metaphorik begleitet.

 

Die jüngsten Abwehrreaktionen auf die globale Welt deuten darauf hin, dass Mauerbau wieder im Kommen ist. Stimmen Sie zu?

Es stimmt, dass die Feindseligkeit gegenüber der Globalisierung in den letzten Jahren – letztlich seit 9/11 – zugenommen hat. Doch dies sind nur Reaktionen auf die unumkehrbare globale Vernetzung wie zum Beispiel die Verlagerung der Güterproduktion von den USA und von Europa nach Asien oder die verschiedenen Migrationsbewegungen. Angesichts solcher Trends hat der ideologische Mauerbau wohl keine allzu grosse Bedeutung.

 

Wir befinden uns gegenwärtig also nicht am Anfang einer neuen Phase der Abschottung?

Das können wir erst in ein paar Jahrzehnten rückblickend beurteilen. Aber ich denke nicht. Die Welt ist zu vernetzt, als dass sich einzelne Staaten oder Gesellschaften wieder stärker abschotten könnten. Ich glaube auch nicht, dass es reine Phasen der Abschottung oder der Öffnung gibt. Viel eher ist es so, dass sich die beiden bedingen und folglich koexistieren. Zwar waren die Städte früher mit Mauern befestigt, doch die Landesgrenzen nicht. So gab es in Europa vor der Geburt der Nationalstaaten im 19. Jahrhundert bereits eine Art Personenfreizügigkeit. Natürlich sind die beiden Pole über die Geschichte hinweg nicht immer gleich stark gewichtet. Dazwischen lagen die Weltkriege, in denen die geschützten Grenzen ihren Höhepunkt erreichten. Aber Öffnung und Abschottung gehören zusammen. Allerdings gibt es in der globalisierten Welt immer weniger Raum für Abschottung.

 

Grenzen wird es aber immer geben.

Ich denke schon. Denn die Unterscheidung zwischen «eigen » und «fremd» ist etwas, das alle sozialen Gruppen in irgendeiner Form und Intensität kennen. Zwar identifizieren wir uns immer weniger über die Nation, aber an ihre Stelle treten neue Möglichkeiten der Gruppenbildung, der Identifikation und damit auch der Abgrenzung. Dies zeigt sich zum Beispiel an den vielen Interessensgemeinschaften im Internet, die jenseits der geografischen Zugehörigkeit funktionieren. Zudem hat jeder Mensch multiple «Identitäten », die etwa mit seiner Familie, seinen Tätigkeiten, seiner religiösen oder politischen Überzeugung oder auch mit seinen Kleidungs- oder Musikstilen verbunden sein können. Der Nationalstaat hingegen, dieses grosse Projekt des 19. Jahrhunderts, ist als dominierende Identifikationsschablone wohl an sein Ende gekommen. Dennoch werden, paradoxerweise, die nationalen Grenzen mehr oder minder bestehen bleiben, weil wir solche überschaubaren Handlungseinheiten brauchen – etwa, um Sozialversicherungssysteme zu organisieren.

 

Bleiben wir bei den digitalen Gemeinschaften. Macht uns das Internet offener?

Ja und nein. Die Digitalisierung macht uns offener, weil sie Menschen mit ähnlichen Interessen aus unterschiedlichen Kulturen und Regionen der Welt zusammenbringt. Gleichzeitig führt die Personalisierung des Netzes dazu, dass wir uns zusehends in einer Art Blase befinden, in der wir nur noch auf uns zugeschnittene Informationen erhalten – oder zumindest scheint eine solche Entwicklung zu drohen. Das wirklich Fremde erschiene dann gar nicht mehr im Feld möglicher Antworten, die uns zum Beispiel Google liefert. Das ist gefährlich, denn ohne Wissen vom «Anderen» bleibt uns auch sein Schicksal gleichgültig.

 

Kann die Welt überhaupt als Dorf funktionieren?

Charles Darwins Buch «The Descent of Man» (1871) handelt an einer Stelle von der Entwicklung des Gewissens und damit der Moral. Die These lautet, dass der Mensch von Anfang an ein schwaches Tier war, das auf Kooperation und Kommunikation mit anderen angewiesen ist. Innerhalb der eigenen Gruppe ist es einigermassen friedlich – weil es weiss, dass es von den anderen Gruppenmitgliedern abhängig ist. Darwin spekuliert, dass wir eines Tages dank globaler Medien so viel über unsere gegenseitige globale Abhängigkeit wissen, dass die Menschheit trotz aller Gegensätze zunehmend als Gemeinschaft funktionieren wird. Man könnte argumentieren, dass das «gemeinsame» Wissen um die Klimaerwärmung oder auch das dank weltweiter Live- und Onlinemedien «gemeinsame» schnelle Informiertwerden über Katastrophen oder Kriege die Formen des globalen politischen Handelns verändert haben. Kurz: Ich glaube, es gibt eine gewisse Medienlogik der Globalisierung, die eine globale Zivilgesellschaft fördert. Dass gleichzeitig einige nationale Medien so tun, als höre die Welt an der Landesgrenze auf, ändert daran langfristig nichts.

 

Als Folge des global wachsenden Wohlstands ist die Welt heute so sicher wie noch nie. Gegen was müssen wir uns noch wehren?

Gegen überhitzte «Immunreaktionen» in der Gesellschaft, das heisst gegen die heftigen Reaktionen gegenüber allem, was als fremd erscheint. Gesellschaften wehren sich zwar oft gegen alles, was neu ist, und ich weiss auch, dass das Festhalten an einem weltoffenen und fremdenfreundlichen Standpunkt nicht immer einfach ist. Ich habe 2007 in einem Zeitungsartikel dafür plädiert, dass eine liberale Gesellschaft ein «durchschnittliches Mass an Kriminalität» aushalten muss. Als ich am Abend der Publikation nach Hause kam, war die Wohnung ausgeräumt – da konnte ich meine «Liberalität» testen. Doch falls die Täter «Ausländer» waren – was ich nicht weiss –, ist es wichtig festzuhalten, dass der Grund für ihr Verhalten oft darin liegt, dass sie systematisch ausgegrenzt werden. In der Schweiz sind auch Menschen, die seit Generationen hier leben, «Ausländer» – und uns so «fremd» wie wir ihnen.

 

Sie erwähnen Immunreaktionen in der Gesellschaft. Ist es legitim, von gesellschaftlichen Allergien zu sprechen, wenn wir an die Überreaktionen auf die zunehmende Öffnung denken?

Unser Reden und Denken über Abwehr ist zwar sehr stark von der Immunologie geprägt. Doch es kann, wie gesagt, gefährlich sein, biologische Modelle auf die Gesellschaft zu übertragen. Eine Allergie ist eine körperliche Reaktion. Sie gehört zur Natur – was immer das ist. Fremdenfeindlichkeit ist aber keine natürliche Reaktion, sondern die Folge gesellschaftlich konstruierter Feindbilder. Man sollte daher vermeiden, von gesellschaftlichen Allergien zu sprechen – auch von Immunreaktion, wie ich es getan habe.

 

Philipp Sarasin ist Professor für Neuere Geschichte am Historischen Seminar der Universität Zürich, Forschungsstelle für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, und Gründungsmitglied des Zentrums «Geschichte des Wissens» der Universität und der ETH Zürich. Seine Arbeitsgebiete sind Geschichte des Wissens, Geschichte des Kalten Krieges, Theorie der Geschichtswissenschaft, Stadtgeschichte, Körper- und Sexualitätsgeschichte. Zu seinen Publikationen gehören: «Evolution. Ein interdisziplinäres Handbuch» (2010), «Darwin und Foucault. Genealogie und Geschichte im Zeitalter der Biologie» (2009), «Bakteriologie und Moderne. Studien zur Biopolitik des Unsichtbaren 1870–1920» (2006).

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