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Sprengt die Bunker! Von Michèle Wannaz und Stephan Sigrist

Mit der wachsenden Angst vor globalen Bedrohungen wird der Ruf nach Abschottung lauter, Verteidigungsrethorik wieder salonfähig. Doch ist klar, dass traditionelle Abwehrreflexe wie Mauerbau oder Flucht nicht ausreichen werden, um den komplexen Herausforderungen von morgen zu begegnen. Abwehr muss neu definiert werden. Und das geht nur, wenn wir bereit sind, unsere Denksilos zu verlassen.

 

Geht es nach den Bedrohungsszenarien, die das kollektive Bewusstsein der global vernetzten Gemeinschaft prägen, steht der Kollaps der modernen Zivilisation kurz bevor. Holland, die Malediven und Sri Lanka werden in Kürze vom ansteigenden Meeresspiegel verschluckt, die zunehmende Migration gefährdet nationale Identitäten, das alte Europa ist dem Untergang geweiht und gemäss Mayakalender erwartet uns Ende 2012 ohnehin die Apokalypse. Im dystopischen Kanon der modernen Propheten wird es für die Gesellschaft allerdings zunehmend schwieriger zu beurteilen, welche Bedrohungen real sind. Was bleibt, ist ein wachsendes Unbehagen gegenüber der Welt von morgen. Und damit verbunden eine Zunahme von Reaktionen auf viele der Entwicklungen rund um die Globalisierung, welche die Welt in den letzten Jahren geprägt haben. 

 

Dies manifestiert sich in radikalen Abwehrreaktionen gegen Migranten, globale Konzerne oder Kriminelle. Als Massnahmen dienen traditionelle Schutzmechanismen wie die gesellschaftliche Ausgrenzung von Fremden oder Kleinkriminellen – in den USA sind gegenwärtig 2,4 Prozent der Bevölkerung inhaftiert –, oder militärische Präventivschläge, die langfristig alle zu kurz greifen oder die bestehenden Probleme sogar verstärken. Gerade die komplexen Herausforderungen der Zukunft wie die Systemrisiken der vernetzten Wirtschaft, die globale Nahrungsmittelknappheit, die Folgen des Klimawandels oder der drastische Anstieg von Zivilisationskrankheiten lassen sich mit dem herkömmlichen Arsenal von Abwehrstrategien zudem nur bedingt bekämpfen.

 

ABWEHR IST MEHR ALS MAUERBAU

Doch welche Abwehrstrategien sind den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts gewachsen? Aus der Vielzahl von Verhaltensweisen und Taktiken, die in Natur, Politik, Wirtschaft, Militär oder Gesellschaft zur Abwehr von Gefahren eingesetzt werden, lassen sich neben den traditionellen Strategien Abschottung, Flucht und Verteidigung auch Täuschung, Drohung, Anpassung oder Kooperation ableiten. Diese unterscheiden sich in Bezug auf ihren «Öffnungsgrad». So wirken Abschottung, Täuschung und Flucht in der Regel abgrenzend. Sie haben das Ziel, eine Bedrohung fernzuhalten. Drohung und Verteidigung basieren hingegen auf Konfrontation. Der Anpassung sowie der Kooperation liegt eine Öffnung zugrunde: Anstatt möglichst alles so zu bewahren, wie es immer war, verändert sich der Mensch, das Tier, das Unternehmen oder die Nation, öffnet sich also für neue Daseinsformen oder sogar für den «Angreifer» selbst.

 

Dass sich diese Strategien über Jahrtausende hinweg behauptet haben, zeugt von der Effektivität jeder einzelnen. Und die Komplexität der Herausforderungen der Zukunft spricht dafür, dieses Repertoire an Möglichkeiten zu nutzen. Dabei zentral sein wird allerdings der Wille, die bestehenden disziplinären Denkmodelle zu überwinden.

 

Als Inspiration dienen erprobte Formen der Abwehr, die von einem Bereich – oftmals der Biologie – auf einen anderen übertragen wurden. Beispielsweise haben sich Entwickler von Antivirensoftware bei der Anwendung der Strategie der Anpassung an der Evolution orientiert, um sich künftig besser vor Attacken aus dem Cyberraum zu schützen. Die Idee beruht darauf, Softwaresysteme zu schaffen, sie sich kontinuierlich verändern, so dass ein angreifendes Virus immer wieder mit einer neuen Umgebung konfrontiert wird. Auch die Wirtschaft lernt am Vorbild der Natur: Die Schweizer Privatbank Wegelin beispielsweise hat 2011 ihr Privatkundengeschäft im Heimmarkt abgespalten, um es vor den US-Steuerbehörden zu schützen –, ähnlich wie die Eidechse ihren Schwanz, wenn sie attackiert wird. In der Medizin könnten Antibiotikaresistenzen durch einen intelligenten Mauerbau bekämpft werden, indem die Oberflächen von medizinischen Geräten, Möbeln und Kleidung nach dem Vorbild von Haifischhaut gestaltet würden, in deren rillenartiger Struktur sich Mikroorganismen nur ganz vereinzelt einnisten und entsprechend nicht mehr wachsen können.

 

EINE FRAGE DES MASSES

Doch nicht nur die Wahl der richtigen Abwehrstrategien ist entscheidend, sondern auch das Mass, in dem diese angewandt werden. Denn der erhoffte Effekt kann in sein Gegenteil kippen, sobald ein Abwehrsystem überreagiert: Dann zerstört sich das System plötzlich selbst. Etwa, wenn nicht nur schädliche, sondern auch überlebensnotwendige Stoffe, Menschen oder Informationen abgewehrt werden oder ein Schutzmechanismus plötzlich kein Mass mehr kennt und das zu schützende System selber zu bekämpfen beginnt. Bei Autoimmunkrankheiten greift sich der Körper selbst an, ein Preiskampf kann die Existenzgrundlage aller beteiligten Unternehmen bedrohen oder das den Staat schützende Justizsystem Unschuldige verurteilen. Aber auch wer zu stark kooperiert oder sich zu sehr anpasst, verrät unter Umständen seine Ideale und verliert seine Identität.

 

Sowohl zu wenig als auch zu viel Abwehr ist also kontraproduktiv – ebenso wie die Wahl einer falschen Strategie. Ein genaues Abschätzen der Situation ist deshalb oftmals hilfreicher als blinder Aktionismus, vor allem, weil viele der vermeintlich fatalen Bedrohungen in Tat und Wahrheit relativ harmlos sind. Für eine angemessene Wahl der Abwehrmittel gilt es in Zukunft also vor allem, unser «geistiges Immunsystem» zu stärken. Erst wenn wir gegen das Virus der Panikmache gefeit sind, kann auch die Wahl der Strategien bedacht erfolgen.

 

Michèle Wannaz ist Projektleiterin bei W. I.R.E., Stephan Sigrist Gründer und Leiter des Think Tanks. Gemeinsam haben sie die Ausstellung «Abwehr – Überlebensstrategien in Natur, Wirtschaft, Politik und Alltag» für das Vögele Kultur Zentrum Pfäffikon konzipiert.

 

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